Kapitel 18
Wenige Minuten vor Mitternacht fuhren Judy und Michael zur Kommandozentrale des Krisenstabs zurück.
Judy hatte seit vierzig Stunden nicht geschlafen, fühlte sich aber nicht müde. Noch immer war sie vom Grauen des Erdbebens erfüllt. Alle paar Sekunden sah sie eines der alptraumhaften Bilder vor dem geistigen Auge: das Wrack des Güterzuges, die schreienden Menschen, den in Flammen aufgehenden Helikopter, den alten Chevy, der sich immer wieder in der Luft überschlug. Als sie den ehemaligen Offiziersclub betrat, fühlte sie sich zittrig und innerlich aufgewühlt.
Michaels Enthüllung jedoch hatte ihr neue Hoffnung gegeben. Daß seine Frau zu den Terroristen gehörte, war ein Schock, zugleich aber eine der bisher vielversprechendsten Spuren. Judy mußte nur Melanie finden, dann fand sie auch die Kinder von Eden.
Und wenn sie das binnen zwei Tagen schaffte, dann konnte sie ein weiteres Erdbeben verhindern.
Sie betrat den alten Ballsaal, der zur Einsatzzentrale umfunktioniert worden war. Stuart Cleever, der FBI- Agent aus Washington, der das Kommando übernommen hatte, stand an der Leitstelle. Er war ein gepflegter, adretter Mann in einem makellosen grauen Anzug mit weißem Hemd und gestreifter Krawatte. Neben ihm stand Brian Kincaid.
Der Mistkerl hat sich wieder in den Fall eingeschlichen. Er will bei diesem Burschen aus Washington Eindruck schinden.
Kincaid schien nur auf Judy gewartet zu haben. »Was ist schiefgegangen?« fragte er, kaum daß er sie erblickt hatte.
»Wir sind ein paar Sekunden zu spät gekommen«, antwortete sie müde.»Sie haben uns doch gesagt, Sie ließen alle Erdbebenorte unter Beobachtung halten«, sagte Kincaid mit scharfer Stimme.
»Das ist bei den wahrscheinlichsten Erdbebenorten auch geschehen. Aber diese Terroristen wußten davon; deshalb haben sie sich für einen Erdbebenort zweiter Wahl entschieden. Es war riskant für sie – die Wahrscheinlichkeit eines Fehlschlags war größer -, aber ihr Vabanquespiel ist ihnen geglückt.«
Mit einem Schulterzucken wandte Kincaid sich Cleever zu, als wollte er sagen:
Glauben Sie ihr, und Sie werden einfach alles glauben.
Cleever sagte zu Judy: »Sobald Sie einen vollständigen Bericht geschrieben haben, möchte ich, daß Sie nach Hause gehen und sich ein wenig ausruhen. Brian wird die Verantwortung für Ihr Team übernehmen.«
Ich hab‘s gewußt. Kincaid hat Cleever gegen mich aufgehetzt.
Es wird Zeit, daß ich alles auf eine Karte setze.
»Ich würde ja gern eine Pause machen«, sagte Judy, »aber jetzt noch nicht. Ich werde dafür sorgen, daß die Terroristen im Laufe der nächsten zwölf Stunden verhaftet werden.«
Brian ließ einen erstaunten Ausruf hören.
Cleever fragte: »Und wie?«
»Ich habe gerade eine neue Spur entdeckt. Ich weiß jetzt, wer der Seismologe dieser Terroristenbande ist.«
»Wer?«
»Eine Frau. Melanie Quercus. Sie ist die Ehefrau von Michael Quercus, lebt aber getrennt von ihm. Wie Sie sicher wissen, hilft Michael dem FBI. Die Informationen, an welchen Stellen die St.-Andreas-Spalte unter seismischer Spannung steht, hat Melanie von ihm. Sie hat die entsprechenden Daten aus Michaels
Computer gestohlen. Ich habe den starken Verdacht, daß sie Michael außerdem die Liste mit den möglichen Erdbebenorten gestohlen hat – die Stellen, die wir ständig beobachten lassen.«
»Quercus ist ebenfalls verdächtig!« sagte Kincaid. »Er könnte mit seiner Frau unter einer Decke stecken!«
Judy hatte diesen Vorwurf erwartet. »Ganz bestimmt nicht«, sagte sie. »Aber um jeden Zweifel auszuräumen, unterzieht er sich gerade einem Lügendetektortest.«
»In Ordnung«, sagte Cleever. »Können Sie seine Frau finden?«
»Sie hat Michael gesagt, daß sie in einer Kommune im Del Norte County lebt. Mein Team überprüft bereits unser Datenmaterial über dort ansässige Kommunen. Außerdem hat das FBI dort eine kleine Außenstelle mit zwei Mitarbeitern, in einer Stadt namens Eureka. Ich habe die Agenten gebeten, sich mit der örtlichen Polizei in Verbindung zu setzen.«
Cleever nickte und bedachte Judy mit einem anerkennenden Blick. »Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?« »Ich möchte umgehend hinfahren. Unterwegs kann ich ja ein wenig schlafen. Bis ich ankomme, werden die dortigen Beamten die Anschriften sämtlicher Kommunen in der Gegend ermittelt haben. Ich möchte bei allen eine Razzia vornehmen.«
Brian sagte: »Ihr Beweismaterial reicht nicht aus für Durchsuchungsbefehle.«
Damit hatte er recht. Die bloße Tatsache, daß Melanie erklärt hatte, sie lebe in einer Kommune im Del Norte County, begründete keinen hinreichenden Tatverdacht. Doch Judy kannte die Gesetze besser als Brian. »Ich bin der Ansicht, daß nach zwei Erdbeben zwingende Umstände vorliegen, meinen Sie nicht auch?« Mit anderen Worten: Menschenleben waren in Gefahr.
Brian sah verdutzt drein, doch Cleever hatte begriffen. »Dieses Problem kann unser Juristenstab lösen. Dazu haben wir hier schließlich eine Rechtsabteilung eingerichtet.« Er hielt kurz inne. »Ihr Plan gefällt mir«, fuhr er dann fort. »Ich glaube, wir sollten danach verfahren. Was meinen Sie dazu, Brian?«
Kincaid zog ein mürrisches Gesicht. »Ich hoffe in Agentin Maddox‘ Interesse, daß sie recht hat.«
Judy wurde in einem Wagen nach Norden gefahren, hinter dessen Lenkrad eine FBI-Agentin saß, die sie nicht kannte. Die Frau gehörte zu den mehreren Dutzend Mitarbeitern, die zur Bewältigung der Krise von den FBI-Dienststellen Sacramento und Los Angeles hinzugezogen worden waren.
Michael saß neben Judy auf der Rückbank. Er hatte darum gebeten, mitfahren zu dürfen, denn er machte sich schreckliche Sorgen um Dusty. Falls Melanie zu einer Terroristengruppe gehörte, die Erdbeben auslöste – in welcher Gefahr mochte dann ihr Sohn schweben? Judy hatte Cleevers Einverständnis für Michaels Teilnahme an dem Einsatz mit dem Argument erwirkt, nach Melanies Verhaftung müsse sich jemand um den Jungen kümmern.
Kurz nachdem sie die Golden Gate Bridge überquert hatten, kam ein Anruf von Carl Theobald für Judy. Michael hatte den FBI-Leuten gesagt, bei welcher der ungefähr fünfhundert amerikanischen Mobilfunkunternehmen Melanie Kundin war, so daß Carl die Unterlagen über ihre Anrufe hatte anfordern können. Mit Hilfe komplizierter elektronischer Meßverfahren hatte das Unternehmen die ungefähren Gegenden bestimmen können, aus denen Melanies Anrufe gekommen waren.
Judy hatte gehofft, Melanie hätte die meisten Anrufe vom Del Norte County aus geführt hatte, doch sie erlebte eine Enttäuschung.
»Es gibt keinerlei Muster«, erklärte Carl mit müder Stimme. »Sie hat Anrufe aus dem Gebiet des Owens Valley geführt, aus San Francisco, aus Felicitas und von verschiedenen Orten in diesem Großraum. Aber das alles sagt uns nur, daß sie im gesamten Staat unterwegs ist – und das wußten wir ja schon. Aus dem Gebiet, in das Sie unterwegs sind, hat es keine Anrufe gegeben.«
»Das läßt darauf schließen, daß sie dort ein normales Telefon benutzt.«
»Oder sie ist einfach zu vorsichtig dazu.«
»Danke, Carl. Es war einen Versuch wert. Und jetzt sehen Sie zu, daß Sie ein bißchen Schlaf bekommen.«
»Was? Dann ist das alles gar kein wunderschöner Traum? So ‚n Pech aber auch.«
Judy lachte und unterbrach die Verbindung.
Die Fahrerin stellte das Autoradio auf einen Sender ein, der Oldies spielte. Während sie durch die Nacht fuhren, sang Nat King Cole Let There Be Love.
Judy und Michael konnten also ungehört miteinander reden.
»Das Schrecklichste an der Sache ist, daß ich nicht einmal überrascht bin«, sagte Michael nach einer Weile nachdenklichen Schweigens. »Ich glaube, irgendwie hab‘ ich immer gewußt, daß Melanie spinnt. Ich hätte nie zulassen dürfen, daß sie mir Dusty wegnimmt – aber sie ist nun mal seine Mutter.«
Judy tastete im Dunkeln nach seiner Hand. »Du hast getan, was du konntest«, sagte sie und spürte, wie Michael dankbar den Druck ihrer Finger erwiderte.
»Ich hoffe bloß, daß mit dem Jungen alles in Ordnung ist«, sagte er.
»Ja …«
Judy glitt in den Schlaf hinüber, ohne Michaels Hand loszulassen.
Die Einsatzbesprechung fand um fünf Uhr morgens in der FBI-Außenstelle in Eureka statt. Die Agenten vor Ort hatten sich ebenso eingefunden wie Angehörige der Polizei von Eureka und Vertreter aus dem Büro des County Sheriffs. Bei einer Razzia zieht das FBI stets gern örtliche Polizeikräfte hinzu, weil es dazu beiträgt, ein gutes Verhältnis zu den Ortsansässigen zu schaffen, deren Hilfe die lokale Polizei häufig benötigt.
Im Del Norte County waren vier Kommunen ansässig, die in
Kommunen und Gemeinschaften: Ein Führer zu genossenschaftlichem Leben
verzeichnet waren. Das Datenmaterial des FBI hatte eine fünfte Kommune erbracht; auf weitere zwei
hatten Einheimische die Beamten aufmerksam gemacht.
Einer der örtlichen FBI-Agenten wies daraufhin, daß eine der Kommunen, Phoenix Village, nur acht Meilen vom Bauplatz eines geplanten Atomkraftwerks lag. Sind sie das? Judys Herz schlugschneller, und sie führte die Gruppe an, die die Razzia in Phoenix Village vornahm.
Als sie sich dem Dorf näherten – der Streifenwagen des Sheriffs aus dem Del Norte County führte die kleine Kolonne aus vier Fahrzeugen an -, fiel die Müdigkeit von Judy ab. Sie fühlte sich wieder hellwach und voller Energie. Es war ihr nicht gelungen, das Erdbeben in Felicitas zu verhindern, nun aber konnte sie wenigstens dafür sorgen, daß es kein weiteres Beben gab.
Eine Abzweigung von der Landstraße bildete die Zufahrt nach Phoenix Village; sie war mit einem säuberlich gemalten Schild gekennzeichnet, auf dem sich ein Vogel aus Flammen erhob. Es gab weder ein Tor noch einen Wachposten. Auf einer gut befestigten Straße fuhren die Wagen ins Dorf, umrundeten einen Kreisverkehr und hielten. Die FBI-Agenten sprangen aus den Fahrzeugen, fächerten aus, verteilten sich zwischen den Häusern. Jeder hatte eine Kopie des Fotos von Melanie und Dusty dabei, das bei Michael auf dem Schreibtisch gestanden hatte.
Sie ist hier irgendwo, liegt wahrscheinlich mit Ricky Granger im Bett, schläft sich nach den Anstrengungen des gestrigen Tages aus. Hoffentlich haben die beiden Alpträume.
Im Licht des frühen Morgens sah das Dorf friedlich aus. Es gab mehrere scheunenähnliche Gebäude sowie eine Traglufthalle. Die FBI-Agenten bezogen an den Vorder- und Hintereingängen Stellung, bevor sie an die Türen klopften. In der Nähe des Kreisverkehrs entdeckte Judy auf einer Holztafel eine gemalte Karte der Ansiedlung, auf der die einzelnen Häuser und andere Gebäude eingezeichnet waren. Es gab einen Laden, einen Massagesalon, eine Poststelle und eine Autowerkstatt. Außer fünfzehn Häusern waren auch Wiesen, Obstgärten, Spielplätze und ein Sportplatz zu sehen.
So hoch im Norden war es kühl am Morgen, und Judy schauderte und wünschte sich, sie hätte etwas Wärmeres als ihren Hosenanzug aus Leinen angezogen.
Sie wartete auf den Triumphschrei, der verkünden würde, daß einer der Agenten Melanie entdeckt hatte. Michael umrundete voller Nervosität den Kreisverkehr; sein Körper war steif vor Anspannung.
Was für ein Schock, wenn man erfährt, daß die eigene Frau zur Terroristin geworden ist, zu einem Menschen, dessen Tod bejubelt wird, wenn ein Polizist ihn erschießt. Kein Wunder, daß Michael mit den Nerven fertig ist. Er hat sich sogar verdammt gut in der Gewalt.
Neben der Tafel befand sich das Schwarze Brett des Dorfes. Judy las von einem Volkstanz-Kurs, der organisiert wurde, um Gelder für den Expanding Light Fireplace Fond zu beschaffen. Diese Leute hier besaßen eine bemerkenswert glaubwürdige Aura der Harmlosigkeit.
Die FBI-Agenten waren in jedes Haus eingedrungen, hatten sich in jedem Zimmer umgeschaut und bewegten sich nun blitzschnell von Gebäude zu Gebäude. Nach wenigen Minuten trat ein Mann aus einem der größeren Häuser und kam zum Kreisverkehr herüber. Er war um die fünfzig, mit unordentlichem Haar und zerzaustem Bart. Er trug selbstgeschusterte Ledersandalen und hatte sich eine grobwollene Decke um die Schultern geschlungen. »Sind Sie hier der Verantwortliche?« fragte er Michael.
Judy sagte: »Nein, das bin ich.«
Der Mann wandte sich ihr zu. »Würden Sie mir bitte sagen, was hier vor sich geht?«
»Mit Vergnügen«, erwiderte Judy leicht zynisch. »Wir suchen nach dieser Frau.« Sie hielt dem Mann das Foto hin.
Der Mann nahm es ihr nicht aus der Hand, warf nur einen Blick darauf. »Das Bild habe ich schon mal gesehen«, sagte er. »Die Frau ist keine von uns.«
Judy hatte das bedrückende Gefühl, daß der Mann die Wahrheit sagte.
»Wir sind eine religiöse Gemeinschaft«, fuhr der Mann mit wachsendem Unwillen fort. »Und wir sind gesetzestreue Bürger. Wir nehmen keine Drogen. Wir bezahlen unsere Steuern und halten uns an die Anordnungen der örtlichen Behörden. Wir haben es nicht verdient, wie Verbrecher behandelt zu werden.«»Wir müssen bloß sichergehen, daß diese Frau sich nicht hier draußen versteckt.«
»Wer ist die Frau? Und wie kommen Sie darauf, daß sie sich bei uns aufhält? Oder gehen Sie einfach von der Vermutung aus, daß alle Menschen, die in einer Kommune leben, Verdächtige sind?«
»Nein, das tun wir nicht«, sagte Judy, die in Versuchung geriet, dem Burschen ein paar deutliche Worte zu sagen; dann aber sagte sie sich, daß sie es gewesen war, die ihn um sechs Uhr früh geweckt hatte. »Diese Frau gehört zu einer Terroristengruppe. Sie lebt getrennt von ihrem Mann. Sie hat ihm gesagt, sie lebt in einer Kommune im Del Norte County. Es tut uns leid, wenn wir sämtliche Bewohner jeder Kommune und Genossenschaft in dieser Gegend zu dieser frühen Stunde wecken müssen, aber ich hoffe, Sie werden verstehen, daß die Sache sehr wichtig ist. Wäre das nicht der Fall, hätten wir Sie nicht gestört. Und offen gesagt, hätten wir selbst uns auch nicht diese Mühe gemacht.«
Der Mann blickte Judy scharf an; dann nickte er, und seine Haltung änderte sich. »Also gut«, sagte er. »Ich glaube Ihnen. Kann ich irgend etwas tun, Ihnen diese Aufgabe zu erleichtern?«
Judy überlegte einen Moment. »Ist jedes Gebäude in Ihrer Kommune auf dieser Karte verzeichnet?« »Nein«, sagte der Mann. »Es gibt drei neue Häuser auf der Westseite, gleich hinter dem Obstgarten. Aber versuchen Sie bitte, leise zu sein – in einem der Häuser schläft ein neugeborenes Baby.«
»In Ordnung.«
Sally Dobro, eine FBI-Agentin mittleren Alters, kam zu Judy. »Ich glaube, wir haben hier jedes Gebäude überprüft«, sagte sie. »Kein Anzeichen dafür, daß sich einer unserer Verdächtigen hier aufhält.«
Judy sagte: »Da sind drei Häuser westlich vom Obstgarten -habt ihr die gefunden?«
»Nein«, erwiderte Sally. »Tut mir leid. Ich werde sie sofort überprüfen.«
»Aber seid leise«, sagte Judy. »In einem der Häuser schläft ein Säugling.«
»Alles klar.«
Sally machte sich auf den Weg, und der Mann mit der Decke um die Schultern nickte beifällig.
Judys Mobiltelefon meldete sich. Sie stellte auf Empfang und hörte die Stimme von FBI-Agent Frederick Tan. »Wir haben gerade jedes Gebäude in der Kommune Magic Hill überprüft. Fehlanzeige.«
»Danke, Freddie.«
Im Laufe der nächsten zehn Minuten riefen die Einsatzleiter der anderen Razzien an.
Alle meldeten das gleiche.
Melanie Quercus war nirgends zu finden.
Judy versank in einem Sumpf schwarzer Verzweiflung. »Verdammt noch mal«, sagte sie. »Ich hab‘s vermasselt.«
Michael war nicht minder bestürzt. Besorgt fragte er: »Ob wir eine Kommune übersehen haben? Was meinst du?«
»Entweder das, oder Melanie hat gelogen, was die Gegend betrifft.«
Michael machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich muß gerade an mein Gespräch mit Melanie denken«, sagte er. »Ich habe sie gefragt, wo sie wohnt, aber der Mann hat die Frage beantwortet.«
Judy nickte. »Ich glaube, er hat gelogen. Er ist ein gerissener Mistkerl.«
»Mir ist vorhin sein Name eingefallen«, sagte Michael. »Melanie hat ihn Priest genannt.«
Kapitel 19
Am Samstagmorgen, beim Frühstück im Küchenhaus, erhoben sich Dale und Poem, baten um Ruhe und richteten das Wort an alle anderen. »Wir müssen euch etwas mitteilen«, sagte Poem.
Priest vermutete, daß Poem wieder schwanger war. Er machte sich bereit, Beifall zu spenden, in Jubel auszubrechen und eine kleine Glückwunschrede zu halten, wie man es von ihm erwartete. Er war ohnehin von beinahe überschwenglicher Freude erfüllt. Noch hatte er die Kommune nicht gerettet, doch er stand kurz davor. Sein Gegner mochte noch nicht völlig k.o. sein, lag aber schon am Boden und mühte sich verzweifelt, wieder auf die Beine zu kommen und den Kampf fortzuführen.
Poem zögerte; dann schaute sie Dale an. Dessen Gesicht war ernst. »Wir verlassen heute die Kommune«, sagte er.
Betroffenes Schweigen breitete sich aus. Priest war wie vor den Kopf gestoßen, wütend, fassungslos. Niemand ging einfach von ihm fort – es sei denn, er wollte es so. Diese Leute standen unter seinem Bann. Und Dale war Onologe, der wichtigste Mann der Weinkelterei. Sie konnten es sich nicht leisten, ihn zu verlieren.
Und ausgerechnet heute! Wenn Dale die Nachrichten verfolgt hätte – so wie Priest vor einer Stunde, als er in einem geparkten Auto gesessen und Radio gehört hatte -, dann hätte er auch gewußt, daß eine Massenpanik in Kalifornien ausgebrochen war. Die Flughäfen wurden regelrecht belagert, und die Schnellstraßen waren hoffnungslos überfüllt mit Menschen, die aus den Städten und sämtlichen Gebieten in der Nähe der St.-Andreas-Spalte flüchteten. Gouverneur Robson hatte die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt. Der Vizepräsident war mit dem Flugzeug nach Felicitas unterwegs, um sich vor Ort ein Bild von den Schäden zu machen. Immer mehr Menschen – Senatoren und Kongreßabgeordnete, Bürgermeister, Gemeindedirektoren und Journalisten -bedrängten den Gouverneur, der Forderung der Kinder von Eden nachzugeben. Dale aber wußte nichts von alledem.
Priest war nicht der einzige, den Dales Ankündigung schockierte. Apple brach in Tränen aus, worauf auch Poem zu weinen anfing. Als erste ergriff Melanie das Wort. »Aber, Dale … warum?« fragte sie.
»Du weißt, warum«, erwiderte er. »Dieses Tal wird überflutet.«
»Und wo willst du hin?«
»Nach Rutherford im Napa Valley.«
»Hast du einen geregelten Job?«
Dale nickte. »In einer Weinkellerei.«
Kein Wunder, daß er sich einen Job besorgen konnte.
Priest wußte, daß Dales Fachkenntnisse unbezahlbar waren. Gut möglich, daß er jetzt das große Geld verdiente. Das eigentlich Erstaunliche aber war, daß Dale zurück in die Welt außerhalb der Kommune wollte.
Inzwischen weinten mehrere Frauen. »Könnt ihr denn nicht hoffen und abwarten, so wie wir anderen?« fragte Song.
Poem antwortete ihr unter Tränen: »Wir haben drei Kinder. Wir haben nicht das Recht, ihr Leben zu gefährden. Wir können nicht hierbleiben und auf ein Wunder hoffen … so lange, bis das Wasser schon um unsere Häuser schwappt.«
Zum erstenmal meldete Priest sich zu Wort. »Dieses Tal wird nicht überflutet.«
»Das weißt du doch gar nicht«, sagte Dale.
Im Küchenhaus wurde es still. Es war ungewöhnlich, daß jemand Priest so unverblümt widersprach. »Dieses Tal wird nicht überflutet«, wiederholte Priest.
Dale sagte: »Wir alle wissen, daß irgendwas im Gange ist, Priest. In den letzten sechs Wochen warst du mehr unterwegs als zu Hause. Gestern wart ihr zu viert bis Mitternacht fort, und heute morgen steht ein zerbeulter Cadillac auf dem Parkplatz. Aber was du auch vorhast – uns anderen hast du nichts davon
gesagt. Undich kann die Zukunft meiner Kinder nicht deiner Hoffnungen wegen aufs Spiel setzen. Shirley denkt genauso.«
Poems richtiger Name war Shirley, wie Priest sich erinnerte. Daß Dale diesen Namen benutzte, ließ erkennen, daß er sich bereits von der Kommune gelöst hatte.
»Ich werde dir sagen, was dieses Tal retten wird«, erklärte Priest.
Weshalb sollte ich ihnen nichts von dem Erdbeben erzählen? Sie müßten sich freuen, müßten stolz sein! »Die Macht des Gebets. Das Gebet wird uns erretten.«
»Ich werde für euch beten«, sagte Dale. »Und Shirley auch. Wir werden für euch alle beten. Aber wir bleiben nicht hier.«
Poem wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab. »Ich glaube, damit wäre alles gesagt. Es tut uns leid.
Wir haben gestern abend schon gepackt … nicht, daß es viel zu packen gab. Ich hoffe, Slow wird uns zur nächsten Bushaltestelle in Silver City fahren …«
Priest erhob sich und ging zu den beiden. Einen Arm legte er Dale um die Schultern, den anderen Poem. Dann drückte er beide an sich und sagte mit leiser, zwingender Stimme: »Ich kann euren Schmerz verstehen. Laßt uns alle zum Tempel gehen und gemeinsam meditieren. Anschließend entscheidet ihr euch, was ihr tun wollt – und dann wird es die richtige Entscheidung sein.«
Dale wich zurück, entzog sich Priests Umarmung. »Nein«, sagte er. »Diese Zeiten sind vorbei.«
Seine ganze bezwingende Kraft hatte Priest in diese Worte und Gesten gelegt, und doch hatte es nichts an Dales Entschluß geändert. Heißer, gefährlicher, unkontrollierbarer Zorn loderte in ihm auf. Am liebsten hätte er Dale angeschrien und ihm vorgehalten, wie treulos und undankbar er sei. Hätte er die Möglichkeit gehabt, er hätte die beiden getötet. Doch er wußte, daß es ein Fehler gewesen wäre, seinen Zorn offen zu zeigen. Er mußte die Fassade der Gelassenheit wahren.
Allerdings brachte er es nicht fertig, Dale und Poem ein aufrichtiges Lebewohl zu sagen. Hin- und hergerissen zwischen seiner Wut und der Notwendigkeit, sich beherrschen zu müssen, verließ Priest schweigend und mit so viel Würde, wie er nur aufbringen konnte, das Küchenhaus.
Er kehrte zu seiner Hütte zurück.
Nur noch zwei Tage, und alles wäre in Ordnung gewesen. Einen Tag nur!
Er setzte sich aufs Bett und zündete sich eine Zigarette an. Spirit lag auf dem Boden und beäugte Priest mit traurigen Augen. Beide blieben stumm, rührten sich nicht. Priest erwartete, daß Melanie ihm jeden Moment in die Hütte folgte.
Doch es war Star, die durch den Eingang trat.
Sie hatte nicht mit Priest gesprochen, seit sie und Oaktree am vergangenen Abend mit dem Toyota- Kleinbus aus Felicitas hierher gefahren waren. Priest wußte, daß Star verärgert und erschüttert zugleich über das Erdbeben war. Bis jetzt hatte er nicht die Zeit gehabt, sie von der Notwendigkeit ihres Tuns zu überzeugen.
»Ich gehe zur Polizei«, sagte sie.
Was? Priest glaubte, sich verhört zu haben. Star verachtete die Bullen aus tiefster Seele. Star und ein Polizeirevier betreten? Das wäre ja, als würde Billy Graham in einen Schwulenclub gehen.
»Du hast sie wohl nicht mehr alle«, sagte Priest.
»Wir haben gestern Menschen getötet«, erwiderte Star. »Auf der Fahrt hierher habe ich die Nachrichten gehört. Mindestens zwölf Personen sind ums Leben gekommen, und mehr als einhundert mußten ins Krankenhaus. Kinder und Babys wurden verletzt. Menschen haben ihr Heim verloren, alles was sie besaßen – arme Leute, nicht bloß reiche. Und wir haben ihnen das angetan.«
Alles bricht auseinander – gerade jetzt, wo ich kurz vor dem Sieg stehe!
Priest griff nach Stars Hand. »Glaubst du vielleicht, ich wollte Menschen töten?«
Sie wich zurück, weigerte sich, seine Hand zu ergreifen. »Du hast, weiß Gott, nicht traurig ausgesehen, als es passiert ist.«
Ich muß den Zusammenhalt wahren! Nur noch ganz kurze Zeit, bis wir unser Ziel erreicht haben. Ich muß!
Priest setzte eine schuldbewußte Miene auf. »Ja, ich war glücklich, daß der seismische Vibrator funktioniert hat. Ich war froh darüber, daß wir unsere Drohung wahrmachen konnten. Aber ich hatte nicht vor, jemanden zu verletzen. Ich wußte, daß es riskant ist, aber ich bin das Wagnis nur deshalb eingegangen, weil etwas so Wichtiges auf dem Spiel stand. Ich dachte, du hättest die gleiche Entscheidung getroffen.«
»Das habe ich auch, und es war eine schlechte Entscheidung, eine gottlose Entscheidung.«
Tränen traten ihr in die Augen. »Um Himmels willen, siehst du denn nicht, was mit uns geschehen ist? Wir waren mal junge Leute, die an die Liebe glaubten und an den Frieden – und jetzt bringen wir Menschen um!
Du bist genau wie Lyndon Johnson. Er hat Vietnam bombardiert und das auch noch gerechtfertigt! Damals waren wir der Meinung, daß der Mann ein Schwein ist – und wir hatten recht damit. Mein ganzes Leben hatte ich dem Ziel verschrieben, genau so nicht zu werden!«
»Du meinst also, du hast einen Fehler gemacht«, sagte Priest. »Das kann ich verstehen. Aber ich kann beim besten Willen nicht begreifen, daß du dich reinwaschen willst, indem du mich und die ganze Kommune bestrafst. Du willst uns an die Bullen verraten.«
Star blickte ihn fassungslos an. »So habe ich das nicht gesehen«, sagte sie. »Ich will niemanden bestrafen.«
Jetzt hatte er sie in die Ecke gedrängt. »Was willst du dann wirklich?« Priest ließ ihr keine Zeit zu antworten. »Du willst sicher sein, daß es vorbei ist, nicht wahr?«
»Ich nehm‘s an, ja.«
Priest streckte den Arm nach ihr aus, und diesmal ließ sie zu, daß er ihre Hände ergriff. »Es ist vorbei«, sagte er leise.
»Ich weiß nicht …«
»Es gibt keine weiteren Erdbeben. Der Gouverneur wird nachgeben. Du wirst schon sehen.«
Als Judy zurück nach San Francisco fuhr, wurde sie telefonisch nach Sacramento umgeleitet, um an einem Treffen im Büro des
Gouverneurs teilzunehmen. Es gelang ihr, drei oder vier Stunden im Auto zu schlafen, und als sie schließlich vor dem Kapitol hielt, fühlte sie sich wieder so fit und ausgeruht, daß sie es mit der ganzen Welt hätte aufnehmen können.
Stuart Cleever und Charlie Marsh waren von San Francisco eingeflogen. Der Chef der FBI-Außenstelle Sacramento war ebenfalls zugegen. Sie trafen sich am Mittag im Konferenzzimmer im Hufeisen, der Gouverneurssuite. Im Sessel saß Al Honeymoon.
»Auf der I-8o ist ein zwölf Meilen langer Stau. Alles Leute, die versuchen, von der St.-Andreas-Spalte wegzukommen«, sagte Honeymoon. »Auf den anderen großen Fernstraßen sieht es fast genauso schlimm aus.«
Cleever sagte: »Der Präsident hat den FBI-Direktor angerufen und sich erkundigt, wie es um die öffentliche Sicherheit steht.« Er schaute Judy an, als trüge sie die Schuld an dem Chaos.
»Er hat auch Gouverneur Robson angerufen«, sagte Honeymoon.
»Bis jetzt haben wir keine ernsthaften Probleme, was die öffentliche Sicherheit angeht«, sagte Cleever. »Es gibt Berichte von Plünderungen in drei Stadtteilen von San Francisco und einem in Oakland, aber das sind Einzelfälle. Der Gouverneur hat die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt und sie auf ihren Stützpunkten zusammengezogen, wenngleich wir sie noch nicht einsetzen müssen. Sollte sich jedoch ein weiteres Erdbeben ereignen …«
Der bloße Gedanke ließ Übelkeit in Judy aufsteigen. »Es gibt kein weiteres Beben mehr«, sagte sie.
Die Männer blickten sie an. Honeymoons Gesicht zeigte einen spöttischen Ausdruck. »Haben Sie eine Idee, wie Sie‘s verhindern könnten?«
Die hatte Judy allerdings. Es war ein verzweifelter Plan, doch sie waren in einer verzweifelten Lage.
»Ich kann mir nur eine Lösung vorstellen«, erklärte sie. »Wir stellen Granger eine Falle.«»Wir teilen ihm mit, daß Gouverneur Robson mit ihm persönlich verhandeln will.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Granger darauf hereinfallt«, meinte Cleever.
»Ich weiß nicht.« Judy runzelte die Stirn. »Er ist gerissen, und jeder gerissene Mensch würde eine Falle vermuten. Aber Granger ist ein Psychopath; deshalb liebt er es, andere Menschen zu beherrschen, Aufmerksamkeit auf sich und seine Taten zu lenken, Umstände und Personen zu manipulieren. Der Gedanke, persönlich mit dem Gouverneur von Kalifornien zu verhandeln, wird ein großer Anreiz für ihn sein.«
»Ich nehme an«, sagte Honeymoon, »ich bin der einzige hier, der schon mal mit Granger zusammengetroffen ist.«
»Das stimmt«, erwiderte Judy. »Ich habe ihn nur aus der Ferne gesehen, und ich habe am Telefon mit ihm gesprochen, aber Sie haben mehrere Minuten in Ihrem Wagen mit ihm verbracht. Welchen Eindruck hatten Sie?«
»Sie haben ihn ziemlich gut charakterisiert – ein gerissener Psychopath. Ich glaube, er war wütend auf mich, weil er keinen allzu großen Eindruck auf mich machte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich vermutlich … ich weiß nicht … respektvoller sein müssen.«
Judy verkniff sich ein Grinsen. Es gab nur wenige Menschen, denen Al Honeymoon Respekt entgegenbrachte.
Er fuhr fort: »Der Mann wußte um die politischen Schwierigkeiten, die seine Forderung mit sich bringt. Ich sagte ihm, daß der Gouverneur keiner Erpressung nachgeben könne. Granger hatte bereits daran gedacht und eine Antwort parat.«
»Und wie lautete die?«
»Er sagte, wir könnten leugnen, was wirklich geschehen sei. Wir könnten offiziell einen Baustopp für Kraftwerke verkünden und erklären, diese Entscheidung hätte nichts mit der Androhung von Erdbeben zu tun.«
»Wäre das möglich?« fragte Judy.
»Ja. Ich würde es zwar nicht empfehlen, doch sollte der Gouverneur mich fragen, ob wir etwas Entsprechendes ausarbeiten könnten, würde ich mit ja antworten. Aber diese Frage ist rein akademisch. Ich kenne Mike Robson. Er wäre nie damit einverstanden.«
»Aber er könnte so tun als ob«, sagte Judy.
»Wie meinen Sie das?«
»Wir könnten Granger mitteilen, daß der Gouverneur bereit ist, den Baustopp zu verfügen, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen, da er seine politische Zukunft schützen müsse. Und über diese Bedingungen möchte er persönlich mit Granger reden.«
Stuart Cleever warf ein: »Das Oberste Bundesgericht hat verfügt, daß Mitarbeiter von Polizei- und Justizbehörden auch zu Täuschungen und Tricks greifen dürfen, um einen Straftäter zu ergreifen. Es ist uns lediglich untersagt, Verdächtigen damit zu drohen, ihnen die Kinder wegzunehmen. Und wenn wir ihnen Immunität vor Strafverfolgung versprechen, ist das bindend – dann gibt es keine Strafverfolgung. Aber Judys Vorschlag ist sicherlich durchführbar, ohne daß wir dabei gegen irgendein Gesetz verstoßen.« »Also gut«, sagte Honeymoon. »Ich weiß zwar nicht, ob es funktioniert, aber ich nehme an, uns bleibt keine andere Wahl. Also versuchen wir‘s.«
Priest und Melanie fuhren in dem zerbeulten Cadillac nach Sacramento. Es war ein sonniger Samstagnachmittag, und in der Stadt wimmelte es von Menschen.
Kurz nach Mittag hatte Priest das Autoradio eingeschaltet und die Stimme von John Truth gehört, obgleich es gar nicht die übliche Zeit für seine Show war. »Hier ist eine Sondermitteilung an Peter Shoebury von der Eisenhower High School«, hatte Truth gesagt. Shoebury war die Identität des Mannes, in die Priest bei der Pressekonferenz des FBI geschlüpft war, und die Eisenhower High war die fiktive Schule, die Flower besuchte. Priest hatte erkannt, daß die Mitteilung an ihn gerichtet war. Truth war fortgefahren:»Ich möchte Peter Shoebury bitten, mich unter der folgenden Nummer anzurufen …«
»Die wollen einen Deal machen«, hatte Priest zu Melanie gesagt. »Hey, Mädel – wir haben sie am Arsch! Wir haben gesiegt!«
Während Melanie sich durch die Innenstadt quälte, umgeben von Hunderten von Autos und Tausenden von Menschen, rief Priest über das Autotelefon John Truth‘ Sender an. Selbst wenn die FBI-Leute den Anruf zurückverfolgten, würde es ihnen nicht gelingen, in dem Verkehrsgewühl ein bestimmtes Fahrzeug zu ermitteln.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er dem Freizeichen lauschte.
Ich hab‘ in der Lotterie gewonnen – und hier bin ich und will meinen Scheck holen.
Der Anruf wurde von einer Frau entgegengenommen.
»Hallo?« Ihre Stimme klang argwöhnisch. Vielleicht hatten sich nach der Aufforderung im Radio schon eine ganze Menge Spinner bei ihr gemeldet.
»Hier Peter Shoebury von der Eisenhower High School.«
Die Antwort erfolgte augenblicklich. »Ich werde Sie mit Al Honeymoon verbinden, dem Kabinettssekretär des Gouverneurs.«
Ja!
»Zuvor muß ich allerdings Ihre Identität überprüfen.«
Das ist ein Trick.
»Und wie wollen Sie das anstellen?«
»Sind Sie so freundlich, und sagen Sie mir den Namen der Redakteurin der Schülerzeitschrift, mit der Sie vor einer Woche die Pressekonferenz besucht haben?«
Priest erinnerte sich, daß Flower gesagt hatte: Ich werd‘dir nie verzeihen, daß du mich Florence genannt hast.
»Sie hieß Florence«, sagte Priest wachsam.
»Danke. Ich verbinde Sie jetzt weiter.«
Kein Trick – nur eine Vorsichtsmaßnahme.
Nervös ließ Priest den Blick über die Straßen schweifen, achtete angespannt auf Polizeifahrzeuge oder eine Gruppe von FBI-Leuten, die auf seinen Wagen losstürmten. Doch er sah bloß Kauflustige und Touristen. Einen Augenblick später fragte die tiefe Stimme von Al Honeymoon: »Mr. Granger?«
Priest kam sofort zur Sache: »Sind Sie bereit, die vernünftige Lösung zu wählen?«
»Wir sind bereit, mit Ihnen zu reden.«
»Was soll das heißen?«
»Der Gouverneur möchte sich heute mit Ihnen treffen und darüber verhandeln, wie wir einen Weg aus dieser Krise finden können.«
»Ist der Gouverneur bereit, den Baustopp anzuordnen, wie wir‘s verlangen?« fragte Priest.
Honeymoon zögerte. »Ja«, sagte er widerstrebend. »Aber unter bestimmten Bedingungen.«
»Wie sehen die aus?«
»Als wir uns in meinem Wagen unterhalten haben, Sie und ich, und ich Ihnen sagte, der Gouverneur dürfe keiner Erpressung nachgeben, da erwähnten Sie politische Ratgeber.«
»Ja.«
»Sie sind ein kluger Mann. Sie wissen, daß bei dieser Sache die politische Zukunft des Gouverneurs auf dem Spiel steht. Die offizielle Verkündung des Baustopps muß äußerst behutsam gehandhabt werden.« Honeymoon hat seine Einstellung geändert, dachte Priest voller Genugtuung. Die Arroganz war verschwunden. Nun brachte er seinem Widersacher Respekt entgegen. Na also.
»Mit anderen Worten, der Gouverneur muß sich aus der Schußlinie halten, und er will sicher gehen, daß ich ihm nicht den Arsch wegpuste.«
»So könnte man es sehen.«
»Wo soll das Treffen stattfinden?«
»Im Büro des Gouverneurs, hier im Kapitol.«
Du hast wohl nicht alle Latten im Zaun.
Honeymoon fuhr fort: »Keine Polizei, kein FBI. Wir garantieren Ihnen, daß Sie das Treffen ungehindert verlassen können, unabhängig vom Ergebnis des Gesprächs.«
Na klar doch.
»Glauben Sie an Feen?« fragte Priest.
»Bitte?«
»Sie wissen schon – kleine fliegende Weiber, die Zauber wirken können. Glauben Sie, die gibt‘s wirklich?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Ich auch nicht. Deshalb werde ich Ihnen nicht in die Falle gehen.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort …«
»Vergessen Sie‘s. Vergessen Sie‘s einfach. Okay?«
Schweigen am andere Ende der Leitung.
Melanie bog um eine Ecke, und sie fuhren an der altehrwürdigen klassischen Fassade des Kapitols vorbei. Irgendwo da drinnen war Honeymoon und stand am Telefon, umgeben von FBI-Männern. Priest betrachtete die weißen Säulen und die Kuppel und sprach in den Hörer: »Ich werde Ihnen sagen, wo ich und der Gouverneur uns treffen. Sie sollten sich lieber Notizen machen. Sind Sie startklar?«
»Ja, legen Sie los. Ich schreib‘s auf.«
»Stellen Sie einen kleinen runden Tisch und zwei Gartenstühle auf den Rasen vor dem Kapitol, genau in der Mitte. Wie für einen Fototermin. Um drei Uhr soll der Gouverneur sich an den Tisch setzen.« »Draußen, im Freien?«
»Hey, Mister, wenn ich ihn erschießen wollte, könnte ich‘s einfacher haben.«
»Wahrscheinlich.«
»Der Gouverneur wird eine unterschriebene Erklärung in der Tasche haben, die mir Schutz vor Strafverfolgung garantiert.«
»Ich kann Ihnen das alles nicht versprechen, weil …«
»Reden Sie mit Ihrem Boß. Er wird einverstanden sein.«
»Gut, ich rede mit ihm.«
»Sorgen Sie dafür, daß ein Fotograf mit einer Sofortbildkamera dabei ist. Ich möchte ein Foto, wie der Gouverneur mir das Immunitätsschreiben überreicht. Als Beweis. Kapiert?«
»Kapiert.«
»Und keine Tricks, ich warne Sie. Der seismische Vibrator steht schon an Ort und Stelle. Alles ist vorbereitet, um ein weiteres Beben auszulösen. Und diesmal wird‘s ‚ne Großstadt treffen. Welche, verrate ich Ihnen nicht, aber Sie können mit Tausenden von Toten rechnen.«
»Ich verstehe.«
»Falls der Gouverneur heute nicht um drei Uhr erscheint … bumm.«
Priest unterbrach die Verbindung.
»O Mann«, sagte Melanie beeindruckt. »Ein Treffen mit dem Gouverneur. Meinst du, es ist eine Falle?« Priest runzelte die Stirn. »Könnte sein«, sagte er. »Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen.«
Judy hatte nichts an dem Plan auszusetzen, den Charlie Marsh mit der FBI-Außenstelle Sacramento ausgearbeitet und in die Tat umgesetzt hatte. Mindestens dreißig Agenten hatten den weißen Tisch mit dem Sonnenschirm im Sichtfeld, der schmuck auf dem Rasen stand, doch Judy selbst konnte keinen der FBI-Leute sehen. Einige hatten hinter den Fenstern der umstehenden Regierungsgebäude Stellung bezogen; andere kauerten in Autos oder Lieferwagen, die in den Straßen und auf dem Parkplatz standen; wieder andere waren in der säulengestützten Kuppel des Kapitols postiert. Alle waren schwer bewaffnet. Judy selbst spielte die Rolle der Fotografin; sie trug Kameras und Objektive an Lederriemen um den Hals. Ihre Waffe steckte in einer Fototasche, die sie über die Schulter geschlungen hatte. Während sie auf das Erscheinen des Gouverneurs wartete, blickte sie durch den Sucher der Kamera auf den Tisch und die Stühle und gab vor, die günstigste Kameraeinstellung zu suchen.
Damit Granger sie nicht auf Anhieb erkannte, trug Judy eine blonde Perücke, die sie ständig in ihrem Auto aufbewahrte und häufig bei Observationen trug, besonders wenn sie über mehrereTage hinweg die gleichen Objekte oder Zielpersonen unter Beobachtung hielt. Wenn sie diese Verkleidung trug, mußte sie sich mit einem gewissen Maß an Hänseleien seitens der Kollegen abfinden.
He, Maddox, du kannst ja bleiben, wo du bist, aber schick mir mal das blonde Schnuckelchen zum Wagen rüber.
Judy wußte, daß Granger den Schauplatz beobachtete. Es hatte ihn zwar niemand entdeckt, doch er hatte vor einer Stunde angerufen und dagegen protestiert, daß Absperrungen um das Kapitol herum errichtet wurden. Granger wollte, daß die Öffentlichkeit wie üblich die Straße benutzen und das Gebäude besichtigen konnte.
Die Sperren waren entfernt worden.
Eine andere Absperrung um das Kapitol herum gab es nicht, so daß die Touristen ungehindert über den Rasen spazieren konnten, und Reisegruppen folgten den vorgeschriebenen Wegen um das Kapitol, durch seine Gärten und die eleganten Regierungsgebäude an den angrenzenden Straßen. Verstohlen beobachtete Judy sämtliche Personen durch den Sucher der Kamera, wobei sie die äußere Erscheinung weitgehend außer acht ließ und sich auf Merkmale konzentrierte, die nicht so leicht getarnt werden konnten. Jeden hochgewachsenen, dünnen Mann mittleren Alters musterte sie genau, ungeachtet seiner Kleidung, seines Gesichts, seiner Haartracht.
Die Zeit verrann.
Eine Minute vor drei, und noch immer hatte Judy keine Spur von Ricky Granger entdeckt.
Michael Quercus, der Granger von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte, war ebenfalls auf Beobachtungsposten. Er saß in einem Überwachungsfahrzeug, einem Lieferwagen mit geschwärzten Fenstern, der um eine Straßenecke geparkt war. Michael durfte nicht zu sehen sein, damit Granger nicht gewarnt wurde, falls er ihn zu Gesicht bekam.
Judy sprach in ein kleines Mikrofon, das unter ihrer Bluse am BH befestigt war. »Ich vermute, daß Granger sich erst blicken läßt, wenn der Gouverneur erschienen ist.«
Ein winziger Lautsprecher hinter Judys Ohr knackte, und sie hörte Charlie Marshs Erwiderung: »Wir haben hier gerade die gleiche Vermutung angestellt. Ich wünschte, wir könnten die Sache durchziehen, ohne daß der Gouverneur sich ungeschützt auf die verdammte Wiese setzen muß.«
Sie hatten über die Möglichkeit diskutiert, einen Doppelgänger einzusetzen, doch Gouverneur Robson hatte persönlich sein Veto eingelegt und erklärt, er würde es nicht zulassen, daß jemand anders sein Leben für ihn riskierte.
»Aber wenn wir es nicht schaffen …«, sagte Judy.
»Dann sollte es eben so sein«, erwiderte Charlie.
Einen Augenblick später erschien der Gouverneur im prunkvollen Vordereingang des Kapitols.
Judy war erstaunt, daß Robson nicht einmal durchschnittlich groß war. Nach ihrem Eindruck im Fernsehen hatte sie einen hochgewachsenen Mann zu sehen erwartet. Robson sah massiger aus als üblich, da er unter der Anzugjacke eine kugelsichere Weste trug. Mit lockeren, zuversichtlichen Schritten ging er über den Rasen und setzte sich unter den Sonnenschirm an den kleinen Tisch.
Judy schoß ein paar Fotos von Robson. Die Kameratasche ließ sie über die Schulter geschlungen, um im Notfall schnellstens an ihre Waffe heranzukommen.
Dann sah sie im Augenwinkel eine Bewegung.
Auf der 10th Street näherte sich langsam ein alter Chevrolet Impala.
Der Wagen besaß eine stumpf gewordene Zweifarbenlackierung, himmelblau und creme, und rostete um die Radkästen herum. Das Gesicht des Fahrers lag im Schatten.
Judy ließ den Blick in die Runde huschen. Kein einziger FBI-Agent war zu sehen, doch sie alle hielten den Wagen garantiert scharf im Auge.
Der Chevy hielt am Bordstein, genau gegenüber von Gouverneur Robson.Judy schlug das Herz bis zum Hals.
»Ich glaube, das ist er«, sagte der Gouverneur mit erstaunlich ruhiger Stimme.
Die Tür des Wagens wurde geöffnet.
Die Person, die auf den Gehsteig trat, trug Jeans, ein weit aufgeknöpftes, kariertes Arbeitshemd über einem weißen T-Shirt und Sandalen. Als der Mann neben dem Wagen stand, sah Judy, daß er dünn war, mit langem dunklem Haar, und ungefähr eins fünfundachtzig groß, vielleicht größer.
Er trug eine Sonnenbrille mit großem Gestell und ein buntes Kopftuch aus Baumwolle als Stirnband.
Judy starrte ihn an. Zu gern hätte sie seine Augen gesehen.
In ihrem Ohrhörer knackte es. »Judy? Ist er das?«
»Ich kann‘s nicht sagen!« erwiderte sie. »Er könnte es sein.«
Der Mann schaute sich um. Die Rasenfläche vor ihm war groß; der Tisch stand ungefähr dreißig Meter vom Straßenrand entfernt. Dann ging der Mann auf den Gouverneur zu.
Judy konnte spüren, wie aller Augen auf sie gerichtet waren, als die anderen auf ihr Zeichen warteten.
Sie setzte sich in Bewegung, bezog zwischen dem Mann und Gouverneur Robson Stellung. Der Mann bemerkte sie, zögerte und ging dann weiter.
Wieder meldete sich Charlie. »Und?«
»Ich weiß es nicht!« flüsterte Judy und versuchte zu sprechen, ohne dabei die Lippen zu bewegen. »Gebt mir noch ein paar Sekunden!«
»Warten Sie nicht zu lange.«
»Ich glaube nicht, daß er es ist«, sagte Judy. Auf sämtlichen Bildern hatte die Nase des Mannes einen ausgeprägt schmalen Rücken besessen. Dieser Mann aber hatte eine breite, flache Nase.
»Sind Sie sicher?«
»Er ist es nicht.«
Der Mann war nun so nahe bei Judy, daß sie nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Er ging um sie herum und näherte sich dem Gouverneur. Ohne stehen zu bleiben, schob er die Hand unter sein Hemd.
Im Ohrhörer hörte Judy Charlies Aufschrei: »Er greift nach irgendwas!«
Judy ließ sich auf ein Knie fallen und packte mit fliegenden Fingern nach ihrer Waffe in der Kameratasche.
Der Mann zog irgendeinen Gegenstand unter dem Hemd hervor. Judy sah ein dünnes, dunkles Etwas, das wie der Lauf einer Waffe aussah. »Keine Bewegung! FBI!« rief sie.
Blitzschnell sprangen Agenten aus Wagen und Kleinbussen und stürmten in Richtung Kapitol.
Der Mann erstarrte.
Judy richtete die Waffe auf seinen Kopf. »Ziehen Sie‘s ganz langsam raus«, sagte sie, »und geben Sie‘s mir.«
»Okay, okay, erschießen Sie mich nicht!« Der Mann zog den Gegenstand unter dem Hemd hervor. Es war eine Illustrierte, zu einem Papierrohr zusammengerollt, das von einem Gummiband gehalten wurde.
Judy nahm ihm die Zeitschrift ab. Ohne die Waffe von dem Mann zu nehmen, warf sie einen Blick darauf. Es war die aktuelle Ausgabe der Time. Im Inneren der Papierröhre befand sich nichts.
Mit verängstigter Stimme sagte der Mann: »Irgendein Typ hat mir hundert Dollar gegeben, wenn ich dem Gouverneur die Zeitschrift bringe!«
FBI-Agenten umringten Mike Robson und führten ihn inmitten eines Schutzwalles aus Leibern zurück ins Kapitol.
Judy schaute sich um, ließ den Blick über die Rasenflächen und Straßen gleiten. Granger schaute sich dieses Spielchen mit Sicherheit an. Er mußte sehen, was geschah. Wo, zum Teufel, steckte er? Leute waren stehen geblieben und beobachteten die hektische Betriebsamkeit der FBI-Agenten. Hinter einem Fremdenführer kam eine Reisegruppe die Stufen vor dem Eingang des Kapitols herunter. Noch während Judy sie beobachtete, löste sich ein Mann in einem Hawaiihemd aus der Gruppe und schlenderte davon. Irgend etwas an diesem Mann erregte Judys Aufmerksamkeit.
Sie runzelte die Stirn. Der Mann war hochgewachsen. Da sein Hemd sehr weit war und locker um seine Hüften hing, konnte Judy nicht erkennen, ob er dünn oder dick war. Und sein Haar war unter einer Baseballmütze verborgen.
Mit raschen Schritten folgte Judy dem Fremden.
Er schien es nicht eilig zu haben, und Judy gab keine Alarmmeldung durch. Falls sie die FBI-Agenten dazu veranlaßte, hinter einem harmlosen Touristen herzujagen, konnte dies zur Folge haben, daß der richtige Granger die Chance bekam, sich abzusetzen. Doch irgendeine unbestimmte Ahnung ließ Judy schneller ausschreiten. Sie mußte das Gesicht des Mannes sehen.
Er bog um eine Gebäudeecke. Judy rannte los.
»Judy?« hörte sie Charlies Stimme im Ohrhörer. »Was ist?«
»Ich überprüfe jemanden«, sagte sie und keuchte leicht. »Ist wahrscheinlich bloß ein Tourist, aber schicken Sie mir ein paar Jungs nach, falls ich doch Unterstützung brauche.«
»Wird gemacht.«
Judy erreichte die Gebäudeecke und sah den Mann im Hawaiihemd durch zwei hohe Holztüren im Inneren des Kapitols verschwinden. Es kam ihr vor, als wäre der Fremde schneller ausgeschritten. Sie warf einen Blick über die Schulter. Charlie redete auf ein paar junge Männer ein und wies auf Judy.
In einer Seitenstraße sprang Michael aus dem Observationsfahrzeug und kam durch das Gartengelände zu Judy gerannt. Sie zeigte auf den Eingang. »Hast du den Burschen gesehen?« rief sie ihm zu.
»Ja!« rief Michael zurück. »Das war der Kerl!«
»Du bleibst hier«, rief sie. Michael war Zivilist; Judy wollte nicht, daß er in die Verfolgungsjagd verwickelt wurde. »Und halt dich aus der Sache raus!« Judy rannte los und verschwand im Kapitol.
Sie gelangte in eine altehrwürdige Eingangshalle mit kunstvollem Mosaikfußboden. Hier war es kühl und still. Ein Stück vor ihr befand sich eine breite Treppe, mit Teppich ausgelegt und mit prunkvoll geschnitzter Balustrade. Hatte der Mann sich nach rechts oder links gewandt? War er nach oben oder nach unten gegangen? Judy entschied sich für die linke Seite. Nach wenigen Metern machte der Gang einen scharfen Knick und führte nach rechts. Judy rannte an einer Reihe von Aufzügen vorüber und gelangte in die Rotunde, einen kreisförmigen Saal, in dessen Mitte eine Art Skulptur stand. Der Saal erstreckte sich über zwei Stockwerke in die Höhe, bis hinauf zu einer reich verzierten Kuppel. Wieder mußte Judy sich zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: War der Mann direkt weitergegangen und nach rechts zum Hufeisen abgebogen, oder war er die Treppe zur Linken hinaufgestiegen? Judy schaute sich um. Die Mitglieder einer Reisegruppe starrten ängstlich auf ihre Waffe. Judy schaute rasch zur rundum verlaufenden Galerie im ersten Stock hinauf und erhaschte einen kurzen Blick auf ein leuchtend buntes Hemd.
Sie stürmte die prunkvolle Treppe hinauf.
Oben angelangt, ließ sie den Blick über die kreisförmige Galerie schweifen. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Türeingang, der in eine andere Welt führte: einen modernen Flur mit Neonbeleuchtung und Fußbodenfliesen aus Plastik. In diesem Flur sah Judy den Mann mit dem Hawaiihemd.
Jetzt rannte er.
Judy stürmte ihm nach. Im Laufen sprach sie keuchend in ihr Mikrofon. »Er ist es, Charlie! Wo bleibt meine Unterstützung, verdammt?«
»Die Jungs haben Sie verloren! Wo sind Sie?«
»Im zweiten Stock, Bürokomplex.«
»Okay.«
Die Türen der Büros waren geschlossen, und auf den Fluren war niemand zu sehen: Es war Samstag. Judy folgte dem Mann um eine Ecke, um eine zweite, eine dritte. Sie verlor ihn zwar nicht aus den Augen, holte aber auch nicht auf.
Der Kerl ist topfit.
Nachdem sie einen vollständigen Kreis beschrieben hatten, gelangte der Mann wieder auf die Galerie. Für einen Moment verschwand er aus Judys Blickfeld. Sie vermutete, daß er zur nächsten Etage hinaufgerannt war.
Schwer atmend stürmte auch Judy eine weitere, reich verzierte Treppe empor in den dritten Stock.
Schilder zeigten ihr an, daß der Gang, der zum Senat führte, sich zu ihrer Rechten befand, der Gang zum Unterhaus zu ihrer Linken. Dorthin wandte sie sich, gelangte an die Tür, die zur Galerie führte, und stellte fest, daß sie verschlossen war – was zweifellos auch für die andere Tür galt. Judy rannte zurück zum oberen Treppenabsatz. Wohin war der Kerl verschwunden?
In einer Ecke entdeckte sie ein Schild an einer Tür. Die Aufschrift lautet Nordtreppe – kein Zugang zum Dach. Judy öffnete die Tür und fand sich in einem schmalen, schmucklosen Treppenhaus mit schlichten Bodenfliesen und eisernem Geländer wieder. Plötzlich hörte sie, wie der Verfolgte mit schnellen, Hackenden Schritten die Stufen hinunterrannte, doch sie konnte ihn nicht sehen.
Judy stürmte den Schrittgeräuschen hinterher.
Und kam in der Rotunde im Erdgeschoß wieder zum Vorschein. Von Granger war nichts zu sehen, doch sie entdeckte Michael, der sich beunruhigt umschaute. Dann sah er Judy. »Hast du den Kerl gesehen?« rief sie ihm zu.
»Nein.«
»Bleib zurück!«
Von der Rotunde aus führte ein marmorverkleideter Flur zu den Büroräumen des Gouverneurs. Judys Blickfeld wurde von einer Reisegruppe eingeschränkt, deren Teilnehmern gerade die Eingangstür zum Hufeisen gezeigt wurde. War da nicht ein Bursche im Hawaiihemd inmitten der Touristen? Judy war nicht sicher. Über den Marmorflur rannte sie auf den Mann zu, an gerahmten Schaubildern vorüber, die jeden Bezirk des Bundesstaates zeigten. Zu ihrer Linken zweigte ein weiterer Flur ab, der zu einem Ausgang mit automatischer Spiegelglastür führte. Judy sah, wie der Mann im Hawaiihemd hindurcheilte. Sie bog nach links ab, hetzte ihm nach. Granger rannte bereits über die L-Street, schlängelte sich haarscharf zwischen bremsenden, schleudernden und hupenden Autos hindurch, federte über die Motorhaube eines gelben Coupes und verbeulte dabei das Blech. Der Fahrer riß die Tür auf und sprang zornentbrannt vom Sitz – dann sah er Judy mit ihrer Waffe und verschwand genauso rasch, wie er zum Vorschein gekommen war, wieder im Wagen.
Judy flitzte über die Straße und ging in dem dichten Verkehr die gleichen verrückten Risiken ein wie zuvor Granger. Mit knapper Not sprang sie vor einem Bus zur Seite, der mit quietschenden Bremsen hielt; dann rannte auch sie mit dröhnenden Schritten über die Motorhaube des gelben Coupes und zwang eine schwere Limousine, ein Ausweichmanöver über drei Fahrspuren hinweg zu vollführen. Judy hatte fast den gegenüberliegenden Bürgersteig erreicht, als auf der äußeren Spur ein Motorrad auf sie zu gejagt kam. Sie trat zurück, und die Maschine schoß nur Zentimeter an ihr vorüber.
Granger stürmte die uth Street entlang; dann warf er sich in einen Gebäudeeingang. Judy blieb ihm auf den Fersen. Sie erkannte, daß Granger in einer Tiefgarage verschwunden war. So schnell sie konnte, rannte auch Judy in die Garage hinunter, als irgend etwas sie mit schrecklicher Wucht im Gesicht traf. Schmerz explodierte in Judys Nase und der Stirn. Geblendet taumelte sie zurück, prallte hart auf den Betonboden. Dann lag sie regungslos da, gelähmt von Schock und Schmerz und nicht imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Sekunden später spürte sie eine starke Hand, die ihren Hinterkopf anhob, und hörte wie aus weiter Ferne die Stimme von Michael. »Judy, um Himmels willen, was ist mit dir?« Allmählich wurde ihr Kopf wieder klar, und ihr Sehvermögen kehrte zurück. Verschwommen konnte sie Michaels Gesicht erkennen.»So sag doch was!« drängte Michael. »Sprich mit mir!«
Judy öffnete den Mund. »Es tut weh«, brachte sie mühsam hervor, »aber ich glaube, es ist nicht schlimm.«
»Gott sei Dank!« Michael zog ein Taschentuch aus der Tasche seiner Khakihose und wischte ihr mit erstaunlicher Zärtlichkeit den Mund ab. »Deine Nase blutet.«
Judy setzte sich auf. »Was ist passiert?«
»Ich hab‘ gesehen, daß du wie ein geölter Blitz hier reingejagt bist, und im nächsten Moment lagst du flach am Boden. Ich glaube, der Kerl hat dir aufgelauert und dir eins verpaßt, als du um die Ecke gebogen bist. Wenn ich das Schwein in die Hände kriege …«
Judy bemerkte, daß sie ihre Waffe hatte fallen lassen. »Mein Revolver …«
Michael blickte sich um, entdeckte die Waffe und reichte sie Judy.
»Hilf mir auf.«
Er zog sie auf die Füße.
Judys Gesicht schmerzte höllisch, doch sie konnte wieder deutlich sehen, stand wieder fest auf den Beinen. Angestrengt versuchte sie, klar zu denken.
Vielleicht habe ich ihn noch nicht verloren.
Es gab einen Aufzug in der Tiefgarage, doch Granger konnte nicht die Zeit gehabt haben, ihn zu benutzen. Er mußte die Rampe hinaufgerannt sein. Judy kannte die Tiefgarage – als sie Honeymoon besuchte, hatte sie ihren Wagen hier geparkt -, und sie erinnerte sich, daß die Stellplätze sich über die gesamte Breite des Häuserblocks erstreckten und daß sich an der loth und i ith Street Einfahrten zu der Tiefgarage befanden. Vielleicht wußte Granger das auch und flüchtete in diesem Augenblick durch die Tür zur 10th Street.
Es gab nur eins: ihn weiter zu verfolgen.
»Ich muß ihm nach«, sagte Judy.
Sie rannte die Rampe hinauf. Michael folgte ihr, und Judy erhob keine Einwände. Sie hatte ihn schon zweimal angewiesen, zurückzubleiben, und nun fehlte ihr der Atem, es ihm ein drittes Mal zu sagen.
Sie gelangten auf die erste Parkebene. Judy dröhnte der Schädel, und ihre Beine waren plötzlich schwach und wackelig. Sie wußte, daß sie nicht mehr viel weiter konnte. Gemeinsam mit Michael eilte sie über das Parkdeck.
Plötzlich jagte ein schwarzer Wagen aus einer Parknische direkt auf sie zu.
Judy sprang zur Seite, warf sich zu Boden und rollte sich in panischer Hast über den Beton, bis sie unter einem geparkten Auto verschwand.
Sie sah weißen Rauch und roch verbranntes Gummi, als der schwarze Wagen mit kreischenden, qualmenden Reifen auf engstem Raum drehte und wie ein Geschoß die Rampe hinunter beschleunigte. Judy erhob sich, suchte voller Panik nach Michael. Sie hatte ihn vor Angst und Erschrecken aufschreien hören. Hatte der schwarze Wagen ihn angefahren?
Dann sah sie ihn, ein paar Meter entfernt, auf Händen und Knien am Boden. Sein Gesicht war weiß vom Schock.
»Alles in Ordnung?« fragte sie.
Michael rappelte sich auf. »Nichts passiert. Hätte mich nur fast zu Tode erschreckt.«
Judy warf einen Blick zur Rampe, doch der schwarze Wagen war längst verschwunden.
»Verdammt«, sagte sie. »Er ist mir entkommen.«
Kapitel 20
Als Judy um sieben Uhr abends den Offiziersclub betreten wollte, kam Raja Khan ihr entgegengerannt.
Er blieb stehen, als er sie sah. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
Was mir passiert ist? Ich habe das Erdbeben nicht verhindern können. Ich hab‘ eine falsche Vermutung angestellt, was das Versteck von Melanie Quercus betrifft. Und Ricky Granger ist mir durch die Lappen gegangen. Ich hab‘ alles vermasselt, und morgen gibt‘s ein weiteres Erdbeben, und noch mehr Menschen werden sterben, und alles ist meine Schuld.
»Ricky Granger hat mir eins auf die Nase gegeben«, sagte Judy, die einen Verband über Wange und Nase trug. Die Tabletten, die man ihr im Krankenhaus in Sacramento gegeben hatte, linderten zwar den Schmerz, doch sie fühlte sich zerschunden und mutlos. »Warum haben Sie‘s so eilig?«
»Wir haben nach ‚ner Langspielplatte mit dem Titel Raining Fresh Daisies gesucht, wissen Sie noch?« »Klar. Weil wir gehofft hatten, daß diese Platte uns auf die Spur der Frau bringt, die bei der John-Truth- Show angerufen hat.«
»Ich hab‘ eine Platte aufgestöbert – gleich hier in der Stadt, in einem Laden namens Vinyl Vic‘s.«
»Verleiht diesem Agenten einen Orden!« Judy spürte, wie ihre Energie wiederkehrte. Das konnte die Spur sein, die sie brauchte. Es war nicht viel, doch es gab ihr wieder Hoffnung. Vielleicht bestand doch noch eine Chance, daß sie ein weiteres Erdbeben verhindern konnte. »Ich fahr‘ mit Ihnen.«
Sie sprangen in Rajas schmutzigen Dodge Colt. Der Wagenboden war mit Bonbon- und Schokoladenpapier übersät. Raja fuhr vom Parkplatz und in Richtung Haight-Ashbury.
»Der Bursche, dem der Laden gehört, heißt Vic Plumstead«, sagte er während der Fahrt. »Als ich vor ein paar Tagen angerufen hatte, war er nicht da. Ich hatte ‚nen jungen Teilzeitverkäufer an der Strippe. Sie hätten die Platte wahrscheinlich nicht, sagte er mir, aber er wollte den Boß fragen. Ich hab‘ ihm die Nummer hinterlassen, und vor fünf Minuten hat Vic mich angerufen.«
»Endlich haben wir mal Glück!«
»Die LP wurde 1969 von einer Plattenfirma aus San Francisco auf den Markt gebracht, der Transcendental Tracks. Die Firma hat im Gebiet der Bay ziemlich viel Werbung gemacht und dort auch einige Platten verkauft, hatte aber nie mehr einen weiteren Hit und verschwand nach ein paar Monaten von der Bildfläche.«
Judys Hochstimmung erhielt einen Dämpfer. »Also gibt es keine Unterlagen, die wir nach Hinweisen auf den jetzigen Aufenthaltsort der Frau durchsehen könnten.«
»Vielleicht gibt die Platte selbst uns irgendeinen Hinweis.«
Vinyl Vic‘s war ein kleiner Laden, der bis in den letzten Winkel mit alten Schallplatten gefüllt war. Ein paar Regale standen mitten im Verkaufsraum und waren bis unter die Decke mit Pappkartons und Sperrholzkisten vollgestellt. Es roch wie in einer staubigen alten Bibliothek. Nur ein Kunde hielt sich im Laden auf, ein tätowierter Mann in ledernen Shorts, der eine alte Platte von David Bowie betrachtete. Im hinteren Teil des Verkaufsraumes stand ein kleiner, dünner Mann in engen Bluejeans und einem batikgefärbten T-Shirt neben einer Registrierkasse und nippte Kaffee aus einem Becher mit dem Aufdruck: Legalisiert das Koffein!
Raja stellte sich vor. »Sie müssen Vic sein. Wir haben vor ein paar Minuten telefoniert.«
Vic starrte die beiden an. Er schien überrascht. »Jetzt nimmt das FBI sich nach so langer Zeit auch mal meinen Laden vor«, sagte er, »und wer taucht auf? Zwei Asiaten. Was ist denn mit uns Amis passiert?« Raja sagte: »Ich bin der Alibi-Nichtweiße, und sie ist die fernöstliche Quotenfrau. In jeder FBI- Dienststelle muß es mindestens einen von unserer Sorte geben. Das ist Vorschrift. Alle anderen FBI- Leute sind weiße Männer mit kurzgeschorenem Haar.«
»Oh … verstehe.« Vic schien verwirrt. Offenbar wußte er nicht, ob Raja sich bloß einen Scherz erlaubte. »Was ist mit der Schallplatte?« fragte Judy ungeduldig.
»Hier haben wir das gute Stück.« Vic beugte sich zur Seite, und Judy sah, daß hinter der Registrierkasse ein Plattenspieler stand. Vic führte den Tonarm über die Platte und ließ behutsam die Nadel sinken. Ein
grelles, wildes Gitarrensolo leitete in eine erstaunlich ruhige Jazz-Funk-Melodie über, bei der Pianoakkorde einen komplizierten Schlagzeugrhythmus begleiteten. Dann fiel eine Frauenstimme ein:
»I am melting,
Feel me melting,
Liquefaction,
Turning softer…«
»Das hat echt Tiefe, was?« sagte Vic.
Judy hielt es für Schwachsinn; aber das war ihr völlig egal. Es war ohne jeden Zweifel die Stimme der Frau auf der Bandaufnahme. Jünger, klarer, weicher, aber mit dem gleichen unverwechselbaren, tiefen, sinnlichen Tonfall. »Haben Sie die Plattenhülle?« fragte sie drängend.
»Klar.« Vic reichte sie ihr.
Die Hülle rollte sich an den Ecken auf, und der dünne, durchsichtige Plastiküberzug schälte sich vom Glanzpapier. Auf der Vorderseite war ein spiraliges, wirbelndes vielfarbiges Muster zu sehen, das die Augen rasch ermüden ließ. Die Worte Raining Fresh Daisies waren kaum zu erkennen. Judy drehte die Plattenhülle um. Die Rückseite war schmuddelig, und in der rechten oberen Ecke war ein brauner Ring zu sehen, den eine Kaffeetasse hinterlassen hatte.
Der Text auf der Hülle begann mit den Worten: »Musik öffnet Türen, die zu parallelen Universen führen …«
Judy las den Text gar nicht erst zu Ende. Auf der unteren Hälfte der Hülle waren nebeneinander fünf Schwarzweißfotos abgedruckt, nur die Köpfe und Schultern, vier Männer und eine Frau. Judy las die Bildunterschriften:
Dave Rolands, Keyboards lan Kerry, Rhythmusgitarre Ross Muller, Baßgitarre Jerry Jones, Schlagzeug Stella Higgins, Sprechgesang
Judy runzelte die Stirn. »Stella Higgins«, sagte sie aufgeregt. »Ich glaube, den Namen hab‘ ich schon mal gehört!«
Sie war ziemlich sicher, konnte sich aber nicht erinnern, wo ihr der Name begegnet war. Vielleicht war es auch nur Wunschdenken. Sie starrte auf das kleine Schwarzweißfoto und sah eine junge Frau um die zwanzig mit einem sinnlichen, lächelnden Gesicht, umrahmt von welligem dunklem Haar, und mit einem breiten, üppigen Mund, wie Simon Sparrow vorhergesagt hatte.
»Sie war wunderschön«, murmelte Judy vor sich hin und forschte in dem Gesicht nach irgendeinem Ausdruck von Verrücktheit, die einen Menschen dazu bringen mochte, mit einem Erdbeben zu drohen, konnte jedoch keinerlei Anzeichen dafür erkennen. Sie sah bloß eine junge Frau voller Hoffnung und Vitalität.
Was ist in ihrem Leben schiefgegangen?
»Könnten wir uns die Platte ausleihen?« fragte Judy.
Vic blickte sie verdrossen an. »Ich will Platten verkaufen, nicht verleihen«, sagte er.
Judy wollte sich nicht auf Diskussionen einlassen. »Wieviel?«
»Fünfzig Mäuse.«
»In Ordnung.«
Vic stellte den Plattenspieler ab, nahm die Scheibe vom Drehteller und ließ sie in die Papierhülle gleiten. Judy bezahlte. »Danke, Vic. Wir wissen Ihre Hilfe zu schätzen.«
Auf der Rückfahrt in Rajas Wagen sagte sie: »Stella Higgins … Wo hab‘ ich diesen Namen bloß schon mal gelesen?«
Raja schüttelte den Kopf. »Bei mir läutet‘s da nirgends.«
Als sie ausstiegen, reichte Judy ihm die Platte. »Lassen Sie von dem Foto der Frau Vergrößerungen machen, und schicken Sie sie an sämtliche Polizeireviere. Und geben Sie Simon Sparrow die Platte. Man kann nie wissen, was er vielleicht noch herausfindet.«
Sie betraten die Einsatzzentrale. Der große Ballsaal war jetzt voller Menschen, und man hatte die Leitstelle um einen zusätzlichen Tisch erweitert. Unter den Personen, die sich um die Zentrale drängten, befanden sich nun einige weitere hohe Beamte aus dem FBI-Hauptquartier in Washington; außerdem Vertreter der Stadt, des Staates und verschiedener Bundesbehörden zur Katastrophenbekämpfung.
Judy ging zum Tisch des Nachrichten- und Ermittlungsteams. Die meisten ihrer Leute telefonierten, gingen Hinweisen nach, verfolgten Spuren. Judy wandte sich an Carl Theobald. »An welcher Sache sind Sie dran?«
»Ich checke die Anrufe, in denen behauptet wird, daß ein brauner Plymouth Barracuda gesehen wurde.« »Ich hab‘ was Besseres für Sie. Holen Sie sich die CD-ROM mit sämtlichen Telefonnummern in Kalifornien, und suchen Sie nach dem Namen Stella Higgins.«
»Und wenn ich ihn finde?«
»Rufen Sie ihre Nummer an und stellen Sie fest, ob die Stimme der Frau sich wie die auf der Bandaufnahme von John Truth anhört.«
Judy setzte sich an den Computer, gab den Namen Stella Higgins ein und führte einen Suchlauf nach Vorstrafen durch. Tatsächlich war eine Frau dieses Namens verurteilt worden: einmal wegen Besitzes von Marihuana zu einer Geldstrafe, ein andermal wegen tätlichen Angriffs auf einen Polizeibeamten bei einer Demonstration zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung. Dem Geburtsdatum nach konnte es die Gesuchte sein. Die Frau wohnte an der Haight Street. Es gab kein Foto in der Datenbank, doch es schien sich um die Stella Higgins zu handeln.
Beide Strafen waren im Jahre 1968 verhängt worden; von da an war Stella Higgins nicht mehr straffällig geworden.
Genauso wie Ricky Granger, der Anfang der siebziger Jahre in der Versenkung verschwunden war. Judy druckte die Datei aus und heftete sie an das Schwarze Brett ›Verdächtige‹. Sie schickte einen Agenten los, der die Adresse in der Haight Street überprüfen sollte, obwohl Judy sicher war, daß Stella Higgins nach nunmehr dreißig Jahren längst nicht mehr dort wohnte.
Judy spürte eine Hand auf der Schulter. Es war Bo. In seinen Augen lag Besorgnis. »Was ist mit dir passiert, mein Kleines?« Sanft tippte er mit den Fingerspitzen gegen den Verband auf ihrer Nase.
»Ich war unvorsichtig, fürchte ich.«
Bo küßte sie auf den Scheitel. »Ich hab‘ heute Nachtdienst, aber ich mußte einfach vorbeikommen und sehen, wie es dir geht.«
»Wer hat dir erzählt, daß ich verletzt wurde?«
»Dieser verheiratete Kerl, Michael.«
Dieser verheiratete Kerl. Judy grinste. Er will mich daran erinnern, daß Michael einer anderen Frau gehört.
»Es ist nicht weiter schlimm, aber ich werde wohl eine Zeitlang mit zwei prächtigen Veilchen herumlaufen.«
»Du brauchst Ruhe. Wann kommst du nach Hause?«
»Kann ich nicht sagen. Mir ist gerade ein großer Wurf gelungen. Komm, setz dich.« Judy erzählte ihm
von Raining Fresh Daisies.
»So wie ich es sehe, ist Stella Higgins ein sehr schönes Mädchen, das im San Francisco der sechziger Jahre lebt, auf Demos geht, Hasch raucht und mit Rockbands herumhängt. Aus den Sechzigern werden die Siebziger, und die Träume des Mädchens platzen, oder sie langweilt sich einfach nur. Sie tut sich mit einem charismatischen Burschen zusammen, der auf der Flucht vor der Mafia ist. Die beiden gründen eine Sekte, die drei Jahrzehnte überlebt, indem die Mitglieder Modeschmuck verkaufen oder was weiß ich. Dann aber geht irgendwas schief. Die Existenz der Sekte wird vom geplanten Bau eines Kraftwerks bedroht. Nun, da die Sekte befürchten muß, daß alles zerstört wird, was sie über die Jahre hinweg aufgebaut hat, sucht sie nach einer Möglichkeit, den Bau des Kraftwerks auf irgendeine Weise, auf jede erdenkliche Weise zu verhindern. Dann schließt sich eine Seismologin der Sekte an und verfällt auf einen verrückten Plan.«
Bo nickte. »Da könnte was dran sein … jedenfalls insoweit, als ein Irrer irgendeinen Sinn in diesem Plan sehen würde, einen verrückten Sinn.«
»Granger hat die kriminelle Erfahrung, den seismischen Vibrator zu stehlen. Außerdem besitzt er das Charisma, die anderen Sektenmitglieder dazu zu bringen, bei der Verwirklichung des Plans mitzumachen.«
Bos Ausdruck wurde nachdenklich. »Der Grund und Boden, auf dem diese Leute wohnen … vielleicht gehört er ihnen gar nicht«, sagte er.
»Wie kommst du darauf?«
»Na ja, stell dir vor, sie wohnen ganz in der Nähe des vorgesehenen Bauplatzes von diesem Atomkraftwerk. Dann müssen sie fortziehen. Falls ihr Haus oder die Farm oder wo auch immer sie gewohnt haben ihr Eigentum wäre, bekämen sie eine Entschädigung und könnten woanders von vorn anfangen. Deshalb vermute ich, daß sie einen Miet- oder Pachtvertrag mit kurzer Laufzeit abgeschlossen haben. Oder sie sind illegale Siedler.«
»Da könntest du recht haben, aber das hilft uns nicht weiter. Es gibt keine Datenbank, in der sämtliche Land- und Grundstücks-Pachtverträge in Kalifornien erfaßt sind.«
Carl Theobald kam zu ihnen, ein Notebook in den Händen. »Drei Treffer im Telefonverzeichnis. Stella Higgins in Los Angeles ist eine Frau von ungefähr siebzig Jahren mit zittriger Stimme. Mrs. Higgins in Stockton hat einen starken Akzent aus irgendeinem afrikanischen Land, wahrscheinlich Nigeria. Und S. J. Higgins in Diamond Heights ist ein Mann namens Sidney.«
»Verdammt«, fluchte Judy und erklärte Bo, um was es ging: »Die Stimme auf der Bandaufnahme von John Truth gehört einer Stella Higgins – und ich bin mir sicher, daß ich den Namen schon mal irgendwo gesehen habe.«
»Versuch‘s mal in deinen eigenen Akten«, sagte Bo.
»Was?«
»Wenn der Name dir bekannt vorkommt, könnte es daran liegen, daß er im Zuge der Nachforschungen irgendwann mal aufgetaucht ist. Durchsuch die Akten zu diesem Fall.«
»Gute Idee.«
»Ich muß jetzt los«, sagte Bo. »Es flüchten so viele Menschen aus der Stadt und lassen ihre Häuser unbewacht zurück, daß der Polizei von San Francisco ‚ne heiße Nacht bevorsteht. Viel Glück, Judy – und nimm dir die Zeit, dich ein bißchen auszuruhen.«
»Danke, Bo.« Judy wandte sich dem Computer zu, rief die Textsuche auf, nahm sich das Verzeichnis mit den gesamten Dateien über die Kinder von Eden vor und gab als Inhalt ›Stella Higgins‹ ein.
Carl schaute Judy über die Schulter. Es war ein großes Verzeichnis, und der Suchlauf nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch.
Schließlich flimmerte der Monitor, und die Meldung erschien:
1 Datei(en) gefunden Judy hätte laut jubeln können.
Carl rief: »Das gibt‘s doch nicht! Der Name ist bereits im Computer!«
OK, mein Gott, ich glaube, ich hab‘ sie.
Als Judy die Datei öffnete, schauten ihr zwei weitere Agenten über die Schulter.
Es war ein umfangreiches Dokument, das sämtliche Notizen enthielt, die sich die FBI-Agenten im Zuge der ergebnislosen Razzia bei den Los Alamos vor sechs Tagen gemacht hatten.
»Was hat das denn zu bedeuten?« Judy stand vor einem Rätsel. »War die Frau bei den Los Alamos, und wir haben sie übersehen?«Stuart Cleever erschien an ihrer Seite. »Was hat die Aufregung hier zu bedeuten?«
»Wir haben die Frau gefunden, die bei John Truth angerufen hat!« sagte Judy.
»Wo?«
»Im Silver River Valley.«
»Wie konnte sie Ihnen durch die Finger schlüpfen?«
Marvin Hayes hat die Razzia organisiert, nicht ich.
»Weiß ich nicht. Ich arbeite daran. Geben Sie mir einen Augenblick Zeit.« Judy benutzte die Suchfunktion, um zu ermitteln, wo der Name in den Akten auftauchte.
Stella Higgins war nicht bei den Los Alamos gewesen. Deshalb war sie dem FBI durch die Maschen gegangen.
Zwei Agenten hatten sich auf einem Weingut umgeschaut, ein paar Meilen das Tal hinauf. Das Grundstück war von der Bundesregierung gepachtet; der Name der Pächterin lautete Stella Higgins. »Verdammt noch mal, wir waren so nahe dran!« rief Judy verzweifelt aus. »Vor einer Woche hätten wir sie fast gehabt!«
»Drucken Sie‘s aus, damit es jeder lesen kann«, sagte Cleever.
Judy schaltete den Drucker ein und las weiter.
Die FBI-Agenten hatten sich gewissenhaft Namen und Alter jedes Erwachsenen auf dem Weingut notiert. Es waren einige Paare mit Kindern darunter, wie Judy feststellte; die meisten hatten das Weingut als ständigen Wohnsitz angegeben. Also waren sie dort zu Hause.
Vielleicht waren die ›Arbeiter‹ auf dem Weingut eine Sekte -was die beiden Agenten schlichtweg übersehen hatten.
Oder die Leute waren sorgfältig darauf bedacht gewesen, die wahre Natur ihrer Gemeinschaft vor den FBI-Leuten zu verschleiern.
»Wir haben sie!« sagte Judy. »Beim erstenmal wurden wir in die Irre geleitet, zumal diese Rechtsradikalen geradezu perfekte Verdächtige abgaben. Als sich dann herausstellte, daß sie mit dieser Sache nichts zu tun haben, haben wir natürlich gedacht, wir lägen hier völlig falsch. Und das wiederum führte dazu, daß wir nachlässig waren, was die anderen Kommunen im Tal angeht. Deshalb haben wir die wirklichen Täter übersehen. Aber jetzt haben wir sie.«
»Ich glaube, Sie haben recht«, meinte Stewart Cleever und wandte sich zum Tisch des Sondereinsatzkommandos. »Rufen Sie die Dienststelle in Sacramento an, Charlie, und leiten Sie alles für eine gemeinsame Razzia in die Wege. Judy kennt den Ort. Wir schnappen sie uns im ersten Tageslicht.« Judy meinte: »Wir sollten die Razzia sofort vornehmen. Wenn wir bis morgen warten, könnten diese Leute verschwunden sein.«
»Warum sollten sie verschwinden?« Cleever schüttelte den Kopf. »Außerdem ist es in der Nacht zu riskant. Die Verdächtigen könnten uns in der Dunkelheit durch die Maschen schlüpfen, besonders in einer so ländlichen Gegend.«
Wo er recht hatte, hatte er recht. Dennoch drängte eine innere Stimme Judy, die Razzia nicht aufzuschieben. »Dieses Risiko würde ich eingehen«, sagte sie. »Jetzt, wo wir wissen, wo dieser Verein steckt, sollten wir sofort zuschlagen.«
»Nein«, erwiderte Cleever kategorisch. »Bitte keine weiteren Diskussionen, Judy. Wir schnappen sie uns im Morgengrauen.«
Judy zögerte. Sie war überzeugt davon, daß Cleever die falsche Entscheidung getroffen hatte. Doch sie war zu müde, sich auf weitere Diskussionen einzulassen. »Also gut«, sagte sie. »Um wieviel Uhr sollen wir abrücken, Charlie?«
Marsh blickte auf die Uhr. »Wir brechen um zwei Uhr früh von hier auf.«
»Dann lege ich mich ein paar Stunden aufs Ohr.«
Judy stand auf, um zu ihrem Wagen zu gehen, den sie auf dem Paradeplatz geparkt hatte – vor Monaten, wie es ihr vorkam, doch in Wahrheit hatte sie den Wagen am Donnerstagabend dort abgestellt, erst achtundvierzig Stunden zuvor.
Auf dem Weg nach draußen begegnete sie Michael. »Du siehst todmüde aus«, sagte er. »Komm, ich fahre dich nach Hause.«
»Und wie soll ich dann wieder hierher kommen?«»Ich mach‘ ein Nickerchen auf deinem Sofa, und dann fahren wir zusammen wieder zurück.«
Judy blieb stehen, schaute ihn an. »Nur damit du‘s weißt -mein Gesicht tut mir so verdammt weh, daß ich dir nicht mal ‚nen Kuß geben kann, geschweige denn was anderes.«
»Ich gebe mich damit zufrieden, deine Hand zu halten«, erwiderte er mit einem Lächeln.
So langsam glaube ich, er hat wirklich was für mich übrig.
Fragend hob Michael eine Braue. »Und? Was hältst du davon?«
»Steckst du mich ins Bett und bringst mir heiße Milch und ein Aspirin?«
»Ja. Und erlaubst du mir, daß ich dich anschaue, während du schläfst?«
Oh, Junge, das würde mir besser gefallen als alles andere auf der Welt.
»Ich glaube, ich sehe ein Ja in deinen Augen«, sagte Michael, der ihre Miene richtig deutete. »Stimmt‘s?« Judy lächelte. »Stimmt.«
Priest war stinkwütend, als er aus Sacramento zurückkehrte. Er war überzeugt davon gewesen, daß der Gouverneur sich auf einen Handel einließe. Er hatte sich schon wie der sichere Sieger gefühlt, hatte sich bereits selber beglückwünscht. Doch alles war nur Heuchelei gewesen. Gouverneur Robson hatte gar nicht daran gedacht, irgendeinen Deal zu machen. Das Ganze war eine Falle gewesen. Die FBI-Leute hatten sich vorgestellt, er, Priest, würde ihnen leicht und locker ins Netz gehen wie ein bescheuerter Schmalspur-Ganove. Dieser Mangel an Respekt hatte ihn am meisten geärgert: Sie hielten ihn für einen ausgemachten Trottel.
Aber sie werden schon noch auf den Trichter kommen und diese Lektion werden sie so schnell nicht vergessen.
Ein weiteres Erdbeben.
Sämtliche Kommunarden waren noch immer unglücklich darüber, daß Dale und Poem sie verlassen hatten – zumal es sie an das erinnerte, was sie verdrängt hatten: daß sie alle am morgigen Tag das Tal verlassen mußten.
Priest berichtete den Reisessern, unter welchem Druck die Staatsregierung inzwischen stand. Die Fernstraßen waren immer noch verstopft mit Kombis und Kleinbussen voller Kinder und Koffer, die vor dem drohenden Erdbeben flüchteten. In den zur Hälfte verlassenen Wohngegenden hatten die Einwohner fast alles zurückgelassen, so daß Plünderer in den Vororten reihenweise Mikrowellenherde, CD-Player und Computer abräumten.
Aber sie alle wußten auch, daß der Gouverneur kein Zeichen des Einlenkens hatte erkennen lassen. Obwohl es Samstagabend war, wurde in der Kommune nicht gefeiert. Nach dem Abendessen und dem abendlichen Gebet hatten die meisten sich in ihre Hütten zurückgezogen. Melanie begab sich zur Schlafbaracke, um den Kindern vorzulesen. Priest saß vor seiner Hütte. Er schaute zu, wie der Mond im Tal unterging, und wurde allmählich ruhiger. Er öffnete eine fünf Jahre alte Flasche seines eigenen Weines, ein Jahrgang, dessen rauchiges Bukett er liebte.
Es ist eine Nervenschlacht, sagte er sich, als er wieder ruhiger denken konnte. Wer hatte das größere Durchhaltevermögen – er oder der Gouverneur? Wer von beiden konnte seine Leute besser unter Kontrolle halten? Würde das Erdbeben die Regierung Kaliforniens in die Knie zwingen, bevor das FBI Priest in seinem Bau in den Bergen aufstöbern konnte?
Er sah Star näherkommen, deren Gestalt sich gegen das Mondlicht abzeichnete. Sie war barfuß und rauchte einen Joint, nahm einen tiefen Zug, beugte sich herunter und küßte Priest mit offenem Mund. Er inhalierte den berauschenden Rauch aus Stars Lungen, atmete ihn aus, lächelte und sagte: »Ich weiß noch, wie du das zum erstenmal getan hast. Es war die geilste Sache, die ich je erlebt hatte.«
»Wirklich?« erwiderte Star. »Geiler, als einen geblasen zu bekommen?«
»Viel geiler. Du weißt doch, ich war sieben Jahre alt, als ich zum erstenmal gesehen hab‘, wie meine Mutter ‚nem Freier einen geblasen hat. Sie hat die Kerle aber nie geküßt. Ich war der einzige, der ‚nen Kuß von ihr bekam. Das hat sie mir selbst gesagt.«
»Mann, Priest, was für ein beschissenes Leben du hattest.«
Er runzelte die Stirn. »Du redest so, als war‘s zu Ende.«
»Na ja, dieser Teil deines Lebens, hier im Tal, ist zu Ende, nicht?« »Nein!«
»Es ist fast Mitternacht. Dein Ultimatum läuft gleich ab. Und der Gouverneur wird nicht nachgeben.«
»Er muß«, sagte Priest. »Ist bloß ‚ne Frage der Zeit.« Er stand auf. »Ich werd‘ mir jetzt die Nachrichten im Radio anhören.«
Star begleitete Priest, als dieser im Mondlicht das Weingut überquerte und den Pfad zu den geparkten Fahrzeugen hinaufstieg. »Laß uns von hier verschwinden«, sagte Star plötzlich. »Nur du und ich und Flower. Wir steigen in den Wagen, jetzt gleich, und hauen ab. Wir sagen nicht auf Wiedersehen, wir packen keine Taschen, wir nehmen nicht mal Sachen zum Wechseln mit. Wir machen einfach die Mücke, genau so, wie ich ‚69 aus San Francisco verschwunden bin. Wir fahren dorthin, wohin der Wind uns treibt – nach Oregon oder Las Vegas, vielleicht sogar nach New Y ork. Oder wie war‘s mit Charleston? Ich wollte schon immer mal den Süden sehen.«
Ohne zu antworten, stieg Priest in den Cadillac und schaltete das Radio ein. Star setzte sich neben ihn.
Aus dem Radio erklang Brenda Lees Let‘s Jump the Broomstick.
»Sag schon, Priest, was hältst du von meinem Vorschlag?«
Die Nachrichtensendung begann, und Priest drehte die Lautstärke höher.
»Der vermutliche Anführer der Terroristengruppe Kinder von Eden, Richard Granger, ist dem FBI heute in Sacramento durch die Finger geschlüpft. Währenddessen haben Tausende, die aus den Gegenden in der Nähe der St.-Andreas-Spalte flüchten, den Verkehr auf vielen Autobahnen und Fernstraßen im Gebiet der Bucht von San Francisco zum Erliegen gebracht. Meilenlange Autoschlangen versperren große Abschnitte der Interstates 280, 580, 680 und 880. Von Vic Plumstead, einem Ladenbesitzer in Haight- Ashbury, der seltene Schallplatten verkauft, wird behauptet, FBI-Agenten hätten bei ihm ein Album erworben, auf dem das Foto eines weiteren verdächtigen Terroristen zu sehen sei.«
»Album?« sagte Star. »Was, zum Teufel …?«
»Plumstead erklärte, die FBI-Agenten hätten ihn um Hilfe gebeten, eine Langspielplatte aus den sechziger Jahren zu suchen. Nach Plumsteads Aussage vermutet das FBI, daß auf dieser Platte die Stimme eines weiteren Verdächtigen der Terrorgruppe Kinder von Eden zu hören sei. Nach tagelangen Bemühungen, erklärte Plumstead, sei es ihm gelungen, das Album ausfindig zu machen, das Ende der sechziger Jahre von einer weitgehend unbekannten Rockband namens Raining Fresh Daisies aufgenommen worden sei.« »Mein Gott! Das hätte ich beinahe selbst schon vergessen!«
»… seitens des FBI liegt weder eine Bestätigung noch ein Dementi vor, daß es sich bei der gesuchten Person um Stella Higgins handelt, die Sängerin der Gruppe.«
»Scheiße!« stieß Star hervor. »Die kennen meinen Namen!«
Priests Gedanken rasten. Wie gefährlich war diese neue Situation? Stars Name allein konnte dem FBI kaum weiterhelfen; sie hatte ihn seit fast dreißig Jahren nicht mehr benutzt. Niemand wußte, wo Stella Higgins lebte.
Doch, sie wissen es.
Priest unterdrückte ein verzweifeltes Aufstöhnen. Das Stück Land im Tal war auf den Namen Stella Higgins gepachtet. Und er selbst hatte diesen Namen den beiden Agenten genannt, die an dem Tag in der Kommune gewesen waren, als das FBI die Razzia bei den Los Alamos vorgenommen hatte.
Das änderte alles. Früher oder später würde jemand vom FBI diese Verbindung erkennen.Und falls das FBI durch einen glücklichen Zufall doch nicht dahinterkam, gab es noch einen Deputy Sheriff in Silver City, derzeit in Urlaub auf den Bahamas, der den Namen Stella Higgins auf eine Akte geschrieben hatte, die in einigen Wochen einem Gericht vorgelegt wurde.
Das Silver River Valley war kein Geheimnis mehr.
Der Gedanke erfüllte Priest mit unsäglicher Trauer.
Was konnte er tun?
Vielleicht sollten er und Star tatsächlich verschwinden. Die Schlüssel steckten im Wagen. In wenigen Stunden konnten sie in Nevada sein. Morgen gegen Mittag wären sie schon Hunderte von Meilen weit fort.
Teufel, nein. Noch geh‘ ich mich nicht geschlagen.
Noch kann ich alles im Griff behalten.
Priests ursprünglicher Plan hatte sich darauf gestützt, daß die Behörden niemals herausfanden, wo die Kinder von Eden sich befanden und weshalb sie den Baustopp neuer Kraftwerke forderten. Nun standen die FBI-Agenten kurz davor, dies alles aufzudecken -aber vielleicht konnte man sie dazu zwingen, ihre Erkenntnisse geheimzuhalten. Das konnte zu einem Teil von Priests Forderung werden. Falls das FBI soweit nachgab, daß es sich mit dem Baustopp neuer Kraftwerke einverstanden erklärte, konnte es das auch noch schlucken.
Es war ein riskanter, ungeheuerlicher Plan – aber schließlich war die ganze Sache ungeheuerlich. Er konnte es schaffen.
Aber er durfte nicht in die Fänge des FBI geraten.
Priest öffnete die Fahrertür und stieg aus. »Gehen wir«, sagte er. »Ich hab‘ ‚ne Menge zu tun.«
Star stieg langsam aus dem Wagen. »Du haust also nicht mit mir ab?« fragte sie bedrückt.
»Teufel, nein.« Er schlug die Tür zu und stapfte los.
Sie folgte ihm durch das Weingut und zurück in die Ansiedlung. Ohne Priest eine gute Nacht zu wünschen, verschwand sie ihrer Hütte.
Priest ging zu einer anderen Blockhütte – der von Melanie. Sie schlief. Grob schüttelte er sie wach. »Steh auf«, sagte er. »Wir müssen los. Mach schnell!«
Judy beobachtete und wartete, während Stella Higgins sich die Augen ausweinte.
Sie war eine großgewachsene Frau, die unter anderen Umständen attraktiv ausgesehen hätte, nun aber wirkte sie völlig am Boden zerstört. Ihr Gesicht war vor Kummer verzerrt, ihr altmodischer Lidschatten war zerlaufen und bildete dünne schwarze Rinnsale auf ihren Wangen, und sie schluchzte, daß ihre massigen Schultern zuckten.
Die beiden Frauen saßen in der winzigen Hütte, die Stars Zuhause war. Um sie herum lagen Medikamente und medizinisches Zubehör: Kisten mit Verbandmaterial und Pflastern, Schachteln mit Aspirin und Tylenol, Troygewichte für eine Apothekerwaage, Fläschchen mit Kolikmitteln, Hustensaft und Jod. Die Wände waren mit Zeichnungen von Kinderhand geschmückt, die Star zeigten, wie sie sich um kranke Jungen und Mädchen kümmerte. Es war eine primitive Behausung, ohne elektrischen Strom und fließendes Wasser, doch sie besaß eine freundliche Aura.
Judy ging zur Tür, schaute hinaus und verschaffte Star auf diese Weise ein bißchen Zeit, ihre Fassung wiederzugewinnen. Im fahlen Licht des frühen Morgens wirkte die Ansiedlung wunderschön. Die letzten Streifen dünnen Nebels verschwanden aus den Baumkronen an den steilen Hügelhängen, und der Fluß funkelte und glitzerte in der Gabelung des Tales. An den unteren Hängen sah man säuberlich angepflanzte Reihen von Weinstöcken; die sprießenden Schößlinge der Reben waren an hölzernen Spalieren festgebunden. Für einen Augenblick wurde Judy von innerem Frieden erfüllt – ein Gefühl, daß an diesem Ort die Dinge genau so waren, wie sie sein sollten, und daß der Rest der Welt schmutzig und verderbt war. Sie schüttelte sich, um sich von dieser gespenstischen Empfindung zu befreien.Michael erschien. Er hatte erneut darauf bestanden, Judy zu begleiten, da er sich um Dusty kümmern wollte; Judy hatte Stuart Cleever erklärt, daß Michael unmittelbar an den Nachforschungen vor Ort beteiligt werden sollte, da sein Fachwissen unverzichtbar für die Ermittlungsarbeit sei. Michael führte Dusty an der Hand. »Wie geht es ihm?« fragte Judy.
»Er fühlt sich prächtig«, sagte Michael.
»Hast du Melanie gefunden?«
»Sie ist nicht hier. Dusty sagt, daß ein großes Mädchen namens Flower sich um ihn kümmert.«
»Hast du eine Ahnung, wohin Melanie gegangen sein könnte?«
»Nein.« Mit einem Kopfnicken wies Michael auf Star. »Was hat sie gesagt?«
»Bis jetzt noch nichts.« Judy ging wieder in die Blockhütte und setzte sich auf die Bettkante. »Erzählen Sie mir von Ricky Granger«, sagte sie.
»Er hat Gutes wie Schlechtes in sich«, erwiderte Star, als ihre Tränen allmählich versiegten. »Früher war er ein Schläger, ein Verbrecher. Ich weiß, daß er sogar Menschen getötet hat. Aber die ganze Zeit, die wir zusammen waren, fünfundzwanzig Jahre lang, hat er keinem was angetan … bis jetzt. Bis jemand auf die Idee kam, diesen beschissenen Staudamm zu bauen.«
»Ich will nur eins«, sagte Judy sanft. »Ich will Ricky Granger finden, bevor er noch mehr Menschen Leid zufügt.«
Star nickte. »Ich weiß.«
»Schauen Sie mich an«, sagte Judy, und Star gehorchte. »Wohin ist Granger verschwunden?«
»Wenn ich‘s wüßte, würd‘ ich‘s Ihnen sagen«, antwortete Star. »Aber ich weiß es nicht.«
Kapitel 21
Priest und Melanie fuhren mit dem Lieferwagen der Kommune nach San Francisco. Der zerbeulte Cadillac war Priest zu verdächtig, und nach Melanies orangefarbenem Subaru hielten möglicherweise die Cops Ausschau.
Sämtlicher Verkehr strömte in die Gegenrichtung, so daß die beiden nahezu ungehindert vorankamen. Kurz nach fünf Uhr früh am Sonntagmorgen erreichten sie die Stadt. Nur wenige Menschen waren auf den Straßen: ein Teenagerpärchen, das in inniger Umarmung an einer Bushaltestelle stand; zwei zittrige Junkies, die bei einem Dealer in langem Mantel Koks kauften; ein hilfloser Betrunkener, der im Zickzack über die Straße taumelte. Die Hafengegend jedoch war menschenleer. Das heruntergekommene Industrieviertel sah im frühen Morgenlicht bedrückend trist und gespenstisch aus. Priest schloß das Tor auf, nachdem er und Melanie zum Lagerhaus der Perpetua Diaries gelangt waren. Der Angestellte der Maklerfirma hatte Wort gehalten: Das Gebäude war wieder ans Stromnetz angeschlossen, und im Waschraum lief das Wasser.
Melanie fuhr den Lieferwagen in die Lagerhalle, und Priest überprüfte den seismischen Vibrator. Er ließ den Motor an; dann hob und senkte er die stählerne Bodenplatte. Alles funktionierte. Auf der Couch in dem kleinen Büro legten sie sich zum Schlafen nieder, kuschelten sich aneinander. Doch Priest blieb wach, überdachte immer wieder seine Lage. Wie er es auch betrachtete -nachzugeben war der einzig vernünftige Schritt, den Gouverneur Robson tun konnte. Priest malte sich aus, wie er in der John-Truth- Show auftrat und erklärte, was für ein dummer Hund Robson doch war.
Nur ein Wort von ihm, und er hätte das Erdbeben verhindern können!
Doch nach einer Stunde ging Priest die Sinnlosigkeitseiner Träumereien auf. Auf dem Rücken liegend, vollführte er jene Entspannungsübungen, die er bei der Meditation benutzte. Sein Körper wurde ruhig, sein Herzschlag verlangsamte sich, sein Verstand wurde leer, und er schlief ein.
Als Priest erwachte, war es zehn Uhr morgens.
Er stellte einen Topf Wasser auf die Heizplatte. Aus der Kommune hatte er eine Dose gemahlenen Kaffee und ein paar Tassen mitgenommen.
Melanie schaltete den Fernseher ein. »In der Kommune habe ich die Nachrichten vermißt«, sagte sie. »Sonst hab‘ ich sie mir immer angeschaut.«
»Normalerweise kann ich Nachrichten nicht ausstehen«, erwiderte Priest. »Es kotzt einen an, von einer Million Dingen zu hören, gegen die man nichts unternehmen kann.« Doch er setzte sich zu Melanie vor den Fernseher. Vielleicht wurde ja etwas über ihn berichtet.
Es wurde nur über ihn berichtet.
»Die kalifornischen Behörden nehmen die Drohung ernst, daß sich heute ein Erdbeben ereignen wird. Die von den Terroristen gesetzte Frist läuft in Kürze ab«, sagte der Nachrichtensprecher; dann wurde ein Film darüber gezeigt, wie städtische Angestellte im Golden Gate Park eine Zeltstadt zur medizinischen Versorgung errichteten.
Der Anblick erfüllte Priest mit Wut. »Warum gebt ihr uns nicht einfach, was wir wollen?« brüllte er den Fernseher an.
Die nächste Einblendung zeigte FBI-Agenten, die in einer Blockhüttensiedlung in den Bergen eine Razzia vornahmen. Nach einem Moment stieß Melanie hervor: »Mein Gott, das ist unsere Kommune!«
Sie sahen Star, die sich in ihren alten purpurnen Umhang aus Seide gewickelt hatte. Auf ihrem Gesicht lagen Schmerz und Kummer, als sie von zwei Männern mit kugelsicheren Westen aus ihrer Hütte geführt wurde.
Priest fluchte. Er war nicht überrascht; die Gefahr, daß eine Razzia vorgenommen wurde, hatte ihn dazu getrieben, die Kommune so eilig zu verlassen. Dennoch wurde er angesichts der Bilder von Verzweiflung und greller Wut erfaßt. Diese selbstherrlichen Schweinehunde hatten seiner Kommune Gewalt angetan.
Ihr hättet uns in Ruhe lassen sollen. Jetzt ist es zu spät.
Er sah Judy Maddox. Auf ihrem Gesicht lag ein finsterer, entschlossener Ausdruck.
Du hast gehofft, mich in deinem Netz zu fangen, stimmt‘s.?
Heute sah sie gar nicht so hübsch aus.
Das Pflaster auf der Nase steht dir nicht, und die Veilchen, die ich dir verpaßt habe, machen dich auch nicht schöner, dachte Priest mit einem Anflug von Genugtuung. Du hast mich belogen und. versucht, mich in die Falle zu locken, und hast dir dabei ‚ne blutige Nase geholt.
Tief innerlich jedoch war ihm desolat zumute. Er hatte das FBI unterschätzt, von Anfang an. Als er seinen Feldzug begann, hätte er sich niemals träumen lassen, daß er irgendwann mit ansehen müßte, wie FBI- Leute in das Heiligtum des Tales eindrangen, das über so viele Jahre hinweg ein geheimer Ort gewesen war. Judy Maddox war schlauer, als Priest erwartet hatte.
Melanie stieß scharf die Luft aus. Eine kurze Einblendung von ihrem Mann wurde gezeigt: Michael, wie er Dusty auf den Armen trug. »O nein!« rief sie.
»Die werden den Kleinen schon nicht in den Knast stecken«, sagte Priest ungeduldig.
»Aber wohin wird Michael ihn bringen?«
»Ist doch scheißegal.«
»Das ist es ganz und gar nicht, wenn‘s ein Erdbeben gibt!«
»Dein Mann weiß besser als jeder andere, wo die gefährlichen Stellen an der Spalte sind. Er wird schon drauf achten, daß er nicht in die Nähe kommt.«
»O Gott, das will ich doch hoffen. Besonders jetzt, wo er Dusty bei sich hat.«
Fluchend schaltete Priest den Fernseher aus. »Wir müssen erst mal raus hier und einiges erledigen«, sagte er. »Nimm dein Handy mit.«
Melanie fuhr den Lieferwagen aus dem Lagerhaus, und Priest schloß hinter ihnen das Tor ab.
»Fahr Richtung Flughafen«, wies er Melanie an, als er einstieg.
Indem sie die Schnellstraßen mieden, gelangten sie nahe an den Flughafen, ohne im Stau steckenzubleiben. Priest vermutete, daß Tausende von Menschen die öffentlichen Telefonzellen in der Gegend belagerten; daß sie versuchten, einen Linienflug zu bekommen, oder ihre Familien anriefen und sich erkundigten, auf welchen Strecken es Verkehrsstaus gab und wie lang sie waren. Übers Handy rief Priest John Truth beim Sender an.
Truth persönlich nahm das Gespräch entgegen.
Wahrscheinlich hat er auf diesen Anruf gehofft, ging es Priest durch den Kopf. »Ich hab‘ ‚ne neue Forderung, also hören Sie genau zu«, sagte er.
»Keine Bange, ich schneide den Anruf auf Band mit«, erwiderte Truth.
Priest lächelte. »Und dann senden Sie ihn in Ihrer Show heute abend, stimmt‘s, John?«
»Bis dahin schmoren Sie hoffentlich im Knast«, sagte Truth gehässig.
»Ja, ja, du mich auch.«
Das Arschloch hat keinen Grund, pampig zu werden.
»Meine neue Forderung ist ein Straferlaß des Präsidenten für sämtliche Mitglieder der Kinder von Eden.« »Ich werde es den Präsidenten wissen lassen.«
Jetzt hörte der Kerl sich unverkennbar zynisch an. Hatte er überhaupt eine Ahnung, wie wichtig diese Sache war? »Gleiches gilt für unsere Forderung, daß der Bau neuer Kraftwerke eingestellt wird.« »Moment mal«, sagte Truth. »Inzwischen weiß alle Welt, wo Ihre Kommune sich befindet. Die Forderung, den Bau von Kraftwerken in ganz Kalifornien einzustellen, ist nicht mehr nötig. Sie wollen doch bloß, daß Ihr Tal nicht überflutet wird, nicht wahr?«
Priest überlegte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht, aber Truth hatte recht. Dennoch beschloß Priest, bei seiner ursprünglichen Forderung zu bleiben. »So läuft das nicht, Mann«, sagte er. »Ich hab‘ meine Grundsätze. Kalifornien braucht nicht mehr Strom, sondern weniger, wenn‘s ein Land bleiben soll, in dem es sich auch noch für meine Enkel zu leben lohnt. Unsere ursprüngliche Forderung bleibt bestehen. Wenn der Gouverneur nicht einverstanden ist, gibt‘s ein neues Erdbeben.«
»Wie können Sie so etwas tun?«
Die Frage kam für Priest völlig unerwartet. »Was?«
»Wie können Sie so etwas tun? Wie können Sie soviel Leid und Not über so viele Menschen bringen – töten, verletzen, zerstören? Dafür sorgen, daß Tausende voller Angst aus ihren Häusern fliehen … Wie können Sie da jemals wieder ruhig schlafen?«
Die Frage ließ Wut in Priest auflodern. »Stellen Sie die Sache nicht so hin, als wären Sie derjenige, der auf der Seite der Vernunft und der Moral steht«, sagte er. »Ich bin es, der Kalifornien retten will.«
»Indem Sie Menschen töten.«
Priest riß der Geduldsfaden. »Jetzt halt endlich mal die Schnauze und hör zu!« rief er. »Ich werde dir jetzt was über das nächste Erdbeben erzählen.« Falls Melanie recht hatte, würde das seismische Fenster sich um zwanzig vor sieben am frühen Abend öffnen. »Sieben Uhr«, sagte Priest. »Heute abend um sieben Uhr kracht‘s.«
»Können Sie mir sagen …«
Priest unterbrach die Verbindung.
Er schwieg eine Zeitlang. Das Gespräch hatte ein unbehagliches Gefühl bei ihm hinterlassen. Eigentlich hätte Truth zu Tode verängstigt reagieren müssen; statt dessen hatte er Priest Vorwürfe gemacht, beinahe mit ihm herumgeplänkelt.
Er hat mich wie einen Verlierer behandelt, dachte Priest. Das ist es.
Sie gelangten an eine Kreuzung. »Hier könnten wir drehen und zurückfahren«, sagte Melanie. »Auf der Gegenfahrbahn ist kein Verkehr.«
»Okay.«
Melanie wendete. Sie war nachdenklich. »Ob wir jemals ins Tal zurück können?« sagte sie leise. »Jetzt, wo das FBI und alle Welt weiß, wo es ist?«
»Ja!« brüllte Priest.
»Schrei nicht!«
»Ja, ja, irgendwann können wir zurück«, sagte Priest mit leiserer Stimme. »Ich weiß, es sieht schlecht aus, und vielleicht müssen wir ‚ne Zeitlang woanders verbringen. Die Weinlese von diesem Jahr ist futsch, das steht fest. Die Pressefritzen und Fernsehleute werden wochenlang im Tal herumkriechen. Aber irgendwann werden sie uns vergessen. Irgendwann wird‘s ‚nen Krieg geben oder ‚ne Wahl oder ‚nen Sexskandal, und dann sind wir Schnee von gestern. Dann können wir heimlich, still und leise ins Tal zurück, in unsere Hütten, können die Weinstöcke wieder in Schuß bringen und ‚ne neue Lese wachsen lassen.«
Melanie lächelte. »O ja«, sagte sie.
Sie glaubt ganz fest daran. Ich bin mir da nicht so sicher. Aber ich werd‘ nicht mehr drüber nachdenken. Wenn ich mir Sorgen mache, bringt das nur meine Entschlossenheit ins Wanken. Jetzt gibt‘s kein Wenn und Aber mehr. Jetzt wird gehandelt.
»Möchtest du zurück zum Lagerhaus?« fragte Melanie.
»Nein. Ich krieg‘ ‚nen Koller, wenn ich den ganzen Tag in dem Loch rumhänge. Fahr in Richtung Stadt und sieh zu, daß wir ‚ne Freßkneipe finden, in der man ein spätes Frühstück kriegt. Ich sterbe vor Hunger.«
Judy und Michael brachten Dusty nach Stockton, wo Michaels Eltern wohnten. Sie flogen mit einem Helikopter, und Dusty war hellauf begeistert. Der Hubschrauber landete auf dem Footballfeld einer High School in einem Außenbezirk.
Michaels Vater war ein pensionierter Buchhalter und bewohnte mit seiner Frau ein schmuckes Haus am Stadtrand, das an einen Golfplatz grenzte. Judy trank in der Küche Kaffee, während Michael sich darum kümmerte, daß sein Sohn sich eingewöhnte. Mrs. Quercus sagte bekümmert: »Vielleicht wird diese schreckliche Sache wenigstens Michaels Firma in Schwung bringen – dann hätte das ganze Elend wenigstens ein Gutes.«
Judy fiel wieder ein, daß Michaels Eltern Geld in seine Beraterfirma gesteckt hatten und daß Michael sich Sorgen darüber machte, ob er das Geld überhaupt würde zurückzahlen können. Doch Mrs. Quercus hatte recht – daß Michael als Erdbebenexperte für das FBI arbeitete, konnte sich als hilfreich für ihn erweisen.
Das Erdbeben. Judy mußte an den seismischen Vibrator denken. Im Silver River Valley hatten sie ihn nicht gefunden, und seit Freitagabend war er nicht mehr gesehen worden. Allerdings waren die Bretter aufgetaucht, mit denen er als Kirmesfahrzeug getarnt worden war: Einer der ungezählten Katastrophenhelfer, die in Felicitas noch immer mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt waren, hatte sie am Rand einer Straße entdeckt.
Judy wußte, mit welchem Fahrzeug Granger jetzt unterwegs war. Bei den Vernehmungen der Kommunebewohner hatte sie erfahren, welche Autos sie fuhren, und dann überprüft, ob Fahrzeuge fehlten. Priest war mit dem Lieferwagen der Kommune unterwegs, worauf Judy eine Fahndungsmeldung mit der Beschreibung des Fahrzeugs herausgegeben hatte. Theoretisch müßte jeder Cop in Kalifornien nach dem Lieferwagen Ausschau halten, doch die meisten Beamten waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich um die Notfälle zu kümmern.
Vielleicht, überlegte Judy – und der Gedanke war beinahe unerträglich für sie -, hätte sie Granger in der Kommune erwischt, wenn sie noch entschlossener durchgegriffen und Cleever davon überzeugt hätte, bereits am vergangenen Abend eine Razzia in der Siedlung vornehmen zu lassen, nicht erst am heutigen Morgen. Aber sie war einfach zu müde gewesen. Inzwischen fühlte sie sich besser – die Razzia hatte einen Adrenalinstoß ausgelöst und Judy mit einem letzten Rest von Energie erfüllt. Doch sie fühlte sich körperlich und seelisch ausgelaugt und mit ihren Kräften fast am Ende.
Auf der Küchenanrichte stand ein kleiner Fernseher. Das Gerät war eingeschaltet, der Ton jedoch abgestellt. Als die Nachrichten gesendet wurden, bat Judy Mrs. Quercus, die Lautstärke aufzudrehen. Ein Interview mit John Truth wurde gezeigt, der am Telefon mit Granger gesprochen hatte. Truth spielte Ausschnitte dieses Gesprächs vor, das er auf Band mitgeschnitten hatte.
»Sieben Uhr«, erklang Grangers Stimme. »Heute abend um sieben Uhr kracht‘s.«
Judy schauderte. Er meinte es ernst. In seiner Stimme lagen kein Bedauern, keine Reue, kein Anzeichen dafür, daß er zögern würde, das Leben unzähliger Menschen aufs Spiel zu setzen. Er klang sachlich und vernünftig, was jedoch darüber hinwegtäuschte, daß dieser Mann nicht voll zurechnungsfähig war. Der Tod und das Leid anderer Menschen machten Granger nichts aus – eines der Merkmale eines Psychopathen.
Judy fragte sich, was Simon Sparrow aus Grangers Stimme heraushören würde. Aber nun war es zu spät für psycholinguistische Analysen. Judy ging zur Küchentür. »Michael!« rief sie. »Wir müssen los!«
Sie hätte ihn gern hier gelassen, bei Dusty. Hier waren beide in Sicherheit. Aber sie brauchte Michael in der Einsatzzentrale. Seine Fachkenntnisse konnten von entscheidender Bedeutung sein.
Er kam mit Dusty in die Küche. »Ich bin gleich soweit«, sagte er. Das Telefon klingelte, und Mrs. Quercus nahm ab. Nach ein paar Sekunden hielt sie Dusty den Hörer hin. »Ist für dich«, sagte sie.
Dusty nahm den Hörer und sagte zaghaft: »Hallo?« Dann erstrahlte sein Gesicht. »Hi, Mom!«
Judy erstarrte.
Es war Melanie.
»Ich bin heute morgen aufgewacht, und du warst weg!« sagte Dusty. »Dann ist Daddy mich holen gekommen.«
Melanie war bei Priest, und der wiederum befand sich mit größter Wahrscheinlichkeit im Versteck des seismischen Vibrators. Eilig nahm Judy ihr Handy hervor und wählte die Nummer der Einsatzzentrale. Raja meldete sich. »Verfolgen Sie ein Gespräch zurück«, sagte Judy leise. »Melanie Quercus ruft gerade einen Teilnehmer in Stockton an.«
Sie las Raja die Nummer vom Telefon der Quercus‘ vor. »Der Anruf kam vor etwa einer Minute. Das Gespräch ist noch im Gange.«
»Ich mach‘ mich dran«, sagte Raja.
Judy unterbrach die Verbindung.
Dusty lauschte in den Hörer, nickte und schüttelte gelegentlich den Kopf. Vor Aufregung kam ihm gar nicht in den Sinn, daß Melanie seine Bewegungen gar nicht sehen konnte.
Dann, von einem Moment zum anderen, reichte er seinem Vater den Hörer. »Mom will mit dir sprechen.« Judy flüsterte Michael zu: »Versuch herauszufinden, wo sie ist!«
Michael nahm von Dusty den Hörer entgegen und drückte ihn an die Brust, um jedes Geräusch zu ersticken. »Du kannst mithören. Im Schlafzimmer ist ein Nebenanschluß.«
»Wo?«
Mrs. Quercus sagte: »Die Tür am anderen Ende des Flurs.«
Judy stürmte ins Schlafzimmer, warf sich auf die geblümte Tagesdecke, riß den Hörer vom Apparat auf dem Nachttisch und bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand.
Sie hörte Michael fragen: »Melanie – wo, zum Teufel, steckst du?«
»Das tut nichts zur Sache«, erwiderte sie. »Ich habe dich und Dusty im Fernseher gesehen. Geht es ihm
gut?«
Also hat sie ferngesehen, wo immer sie auch sein mag.
»Dusty geht‘s prima«, sagte Michael. »Wir sind gerade erst hier angekommen.«
»Ich hatte gehofft, daß ihr zu deinen Eltern fahrt.«
Ihre Stimme war leise. Michael sagte: »Ich kann dich kaum verstehen. Könntest du etwas lauter sprechen?«
»Nein, kann ich nicht. Streng deine Ohren an, ja?«
Sie will nicht, daß Granger sie hört. Gut so! Das könnte bedeuten, daß die beiden Meinungsverschiedenheiten bekommen.
»Okay, okay«, sagte Michael.
»Du wirst mit Dusty dort bleiben, ja?«
»Nein«, antwortete Michael. »Ich gehe zurück in die Stadt.«
»Was? Um Himmels willen, Michael, das ist gefährlich!«
»Wieso? Weil sich das Erdbeben in der Stadt ereignen soll – in San Francisco?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Wird es auf der Halbinsel stattfinden?«
»Ja, auf der Halbinsel. Deshalb darf Dusty nicht dorthin!«
Judys Handy piepte. Sie preßte die eine Hand fest auf die Sprechmuschel des Hörers, den sie am rechten Ohr hielt, nahm mit der anderen ihr Handy und drückte es ans linke Ohr. »Ja?« sagte sie.
Es war Raja. »Sie benutzt ihr Mobiltelefon und ruft aus der Innenstadt von San Francisco an. Genauer können wir den Bereich bei einem Digitaltelefon nicht eingrenzen.«
»Schicken Sie ein paar Leute los. Sie sollen in den Straßen der Innenstadt nach dem Lieferwagen Ausschau halten.«
»Wird gemacht.«
Judy unterbrach die Verbindung.
Michael sagte soeben: »Wenn du dir so große Sorgen machst, warum sagst du mir dann nicht, wo der seismische Vibrator steht?«
»Das kann ich nicht tun!« zischte Melanie. »Du hast sie wohl nicht alle!«
»Was? Ich hab‘ sie nicht alle? Du bist diejenige, die ein Erdbeben auslösen will!«
»Ich muß jetzt Schluß machen.« Ein Klicken ertönte, und die Leitung war tot.
Judy legte den Hörer auf den Apparat neben dem Bett und drehte sich auf den Rücken. Ihre Gedanken rasten. Melanie hatte viele wichtige Informationen preisgegeben. Sie befand sich irgendwo in der Innenstadt von San Francisco. Das machte es zwar nicht leicht, sie zu finden; nun aber konnte man sich auf die Stadt konzentrieren und brauchte Melanie und Granger nicht in ganz Kalifornien zu suchen wie eine Nadel im Heuhaufen. Außerdem hatte Melanie erklärt, das Beben würde sich irgendwo auf der Halbinsel von San Francisco ereignen, dem breiten Landrücken zwischen dem Pazifik und der Bucht. Folglich mußte der seismische Vibrator sich irgendwo in dieser Gegend befinden. Die für Judy faszinierendste Erkenntnis jedoch waren die Hinweise darauf, daß es zwischen Melanie und Granger Spannungen gab. Melanie hatte offenbar ohne Wissen Grangers angerufen; außerdem hatte es ganz den Anschein gehabt, als hätte sie Angst, Granger könne das Gespräch mithören. Das war ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich die Spannungen zwischen den beiden zunutze zu machen.
Judy schloß die Augen und dachte angestrengt nach. Melanie machte sich Sorgen um Dusty. Das war ihre Schwachstelle. Wie ließ sich das verwerten?
Judy hörte Schritte und schlug die Augen auf. Michael kam ins Zimmer. Er bedachte sie mit einem seltsamen Blick.
»Was ist?« fragte Judy.
»Vielleicht ist die Bemerkung nicht angebracht, aber du siehst phantastisch aus, wenn du auf einem Bett liegst.«
Jetzt erst wurde Judy wieder bewußt, daß sie sich im Haus seiner Eltern befand. Sie stand auf.
Michael umarmte sie. Es war ein wundervolles Gefühl. »Was macht dein Gesicht?« fragte er.
Sie schaute zu ihm auf. »Wenn du ganz behutsam bist …«
Sanft küßte er ihre Lippen.
Wenn er den Wunsch hat, mich jetzt zu küssen, wo ich wie Frankensteins Braut aussehe, muß er mich wirklich gern haben.
»Hm«, machte sie. »Wenn das alles vorbei ist …«
»Ja.«
Für einen Moment schloß sie die Augen.
Dann dachte sie wieder an Melanie.
»Michael …«»Ja.«
Sie löste sich aus seiner Umarmung. »Melanie macht sich Sorgen, Dusty könnte sich in der Erdbebenzone aufhalten.«
»Er bleibt hier, keine Bange.«
»Aber Melanie hast du das nicht gesagt. Sie hat dich danach gefragt, aber du hast geantwortet, daß sie dir sagen soll, wo sich der seismische Vibrator befindet, wenn sie sich Sorgen um Dusty macht. Du hast ihre Frage nie richtig beantwortet.«
»Na ja, allein der Gedanke, ich könnte mit Dusty in die Erdbebenzone fahren, ist verrückt. Wie kommt sie bloß darauf, ich könnte den Jungen in Gefahr bringen?«
»Ich meine ja auch nur, daß sie vielleicht Zweifel hat, was Dustys Aufenthaltsort angeht … Zweifel, die ihr schwer zu schaffen machen. Und wo immer sie sein mag, es gibt dort einen Fernseher.«
»Manchmal sieht sie sich den ganzen Tag die Nachrichten an. Das ist Entspannung für sie.«
Judy verspürte einen Stich der Eifersucht. Er kennt sie so gut… »Wie war‘s, wenn wir dich von einem Reporter interviewen ließen – in der Kommandozentrale des Krisenstabes in San Francisco? Er könnte dich fragen, wie du dem FBI hilfst, und Dusty wäre … na ja, irgendwo im Hintergrund zu sehen?«
»Dann wüßte Melanie, daß ich in San Francisco bin.«
»Genau. Und was würde sie dann tun?«
»Mich anrufen und mir fürchterlich die Leviten lesen, könnte ich mir vorstellen.«
»Und wenn sie dich nicht erreichen könnte …«
»Hätte sie eine Heidenangst.«
»Aber würde sie Granger daran hindern, den seismischen Vibrator einzusetzen?«
»Vielleicht. Wenn es ihr möglich wäre.«
»Ist es einen Versuch wert?«
»Haben wir eine andere Wahl?«
Priest war jetzt zu allem entschlossen. Vielleicht gaben der Gouverneur und der Präsident seinen Forderungen doch nicht nach, nicht einmal nach der Katastrophe in Felicitas. Doch heute abend würde sich ein drittes Erdbeben ereignen. Und dann würde er John Truth anrufen und erklären: Ich werde es noch einmal tun! Und das nächste Mal könnte es Los Angeles treffen oder San Bernadino oder San ]ose. Ich kann es so oft machen, wie ich will. Ich mach‘ euch Feuer unterm Arsch, bis ihr nachgebt. Es liegt ganz bei euch!
Die Innenstadt von Los Angeles war eine riesige Geisterstadt. Nur wenige Leute waren einkaufen oder auf einem Spaziergang, wenngleich viele in die Kirchen gingen. Die Tische des Restaurants waren nur zur Hälfte besetzt. Priest bestellte Eier und trank drei Bloody Marys. Melanie war bedrückt; sie machte
sich Sorgen wegen Dusty. Priest glaubte, daß es dem Jungen gutginge; schließlich war er bei seinem Vater.
»Hab‘ ich dir jemals gesagt, weshalb ich Granger genannt werde?« fragte er Melanie.
»Ist das nicht der Name deiner Eltern?«
»Meine Mutter nannte sich Veronica Nightingale. Sie sagte mir, mein Vater hätte Stewart Granger geheißen. Er wär‘ auf ‚ne lange Reise gegangen, hat sie mir erzählt, würde aber eines Tages zurückkommen, in ‚ner großen Limousine, die mit Geschenken beladen wäre – Parfüm und Schokolade für meine Alte und ‚n Fahrrad für mich. An Regentagen, wenn ich nicht auf den Straßen spielen konnte, hab‘ ich immer stundenlang am Fenster gesessen und auf meinen Vater gewartet.«
Für einen Moment schien Melanie ihre eigenen Probleme zu vergessen. »Dann warst du ein armer Junge«, sagte sie.
»Ich muß so zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich erfuhr, daß Stewart Granger ‚n großer Filmstar war. Ungefähr zu der Zeit, als ich geboren wurde, hat er in King Solomon ‚s Mines den Allan Quatermain gespielt. Ich glaube, für meine Mutter war er so was wie ‚n Traumbild. Hat mir‘s Herz gebrochen, das kann ich dir sagen. Die vielen Stunden aus dem verdammten Fenster zu gaffen.« Priest lächelte, doch die Erinnerung schmerzte.
»Wer weiß?« sagte Melanie. »Vielleicht war er wirklich dein Vater. Auch Filmstars gehen zu Prostituierten.«
»Ich sollte ihn wohl mal fragen.«
»Er ist tot.«
»Ach? Das wußte ich gar nicht.«
»Ja. Ich hab‘s vor ein paar Jahren in People gelesen.«
Priest verspürte einen Anflug von Trauer. Er hatte niemals einen richtigen Vater gehabt, und Stewart Granger war dem Bild eines Vaters wenigstens nahe gekommen. »Tja, dann werden wir‘s jetzt nie mehr erfahren.« Er zuckte die Achseln und rief nach der Rechnung.
Als sie das Eßlokal verließen, wollte Priest nicht zum Lagerhaus zurück. In der Kommune hatte er stundenlang untätig herumsitzen können, doch in einem schmuddeligen Zimmer in einem industriellen Ödland würde er Platzangst bekommen. Nach den fünfundzwanzig Jahren, die er im Silver River Valley verbracht hatte, könnte er nie wieder ein Leben in der Stadt führen. Deshalb spazierte er mit Melanie durch Fisherman‘s Wharf, wobei sich beide wie Touristen verhielten. Priest genoß die salzige Seeluft, die von der Bucht herüberwehte.
Als Vorsichtsmaßnahme hatten sie ihr Äußeres verändert: Melanie hatte ihr auffälliges langes rotes Haar hochgesteckt und unter einem Hut verborgen; dazu trug sie eine Sonnenbrille. Priest hatte sich Pomade ins dunkle Haar geschmiert, so daß es flach am Kopf anlag, und der ebenso dunkle Dreitagebart auf den Wangen verlieh ihm das Flair eines Latin Lovers, was einen ziemlichen Unterschied zu seinem üblichen Erscheinungsbild des alternden Hippie darstellte. Die beiden wurden kaum beachtet.
Priest lauschte den Gesprächen der wenigen Passanten. Jeder hatte irgendeinen Grund, in der Stadt zu bleiben.
»Ich mache mir keine Sorgen. Unser Haus ist erdbebensicher …«
»Meins auch, aber vorsichtshalber werde ich mich um sieben Uhr mitten im Stadtpark aufhalten, fern von allen Gebäuden …«
»Ich bin Fatalist. Ob ich nun bei diesem Erdbeben dran glauben muß oder nicht …«
»Finde ich auch. Ebensogut könntest du nach Las Vegas fahren und bei einem Autounfall sterben …«
»Ich habe mein Haus nachträglich verstärken lassen … «
»Niemand kann Erdbeben machen, das war bloß ein Zufall…«
Wenige Minuten nach vier kehrten Priest und Melanie zum Lieferwagen zurück.
Priest sah den Polizisten erst, als es schon fast zu spät war.
Die Bloody Marys hatten ihn mit einer seltsamen Gelassenheit erfüllt. Er fühlte sich beinahe unverwundbar; deshalb hatte er gar nicht auf die Polizei geachtet. Priest war nur noch acht oder neun
Schritte vom Lieferwagen entfernt, als ihm auffiel, daß sich ein uniformierter Cop der San Francisco Police die Nummernschilder anschaute und dabei in ein Walkie-Talkie sprach.
Priest blieb wie angewurzelt stehen und packte Melanie am Arm.
Einen Augenblick später wurde ihm klar, daß es das Klügste gewesen wäre, einfach weiterzugehen; aber dazu war es nun zu spät.
Der Cop sah von dem Nummernschild auf und registrierte Priests Blick.
Rasch wandte sich Priest Melanie zu. Sie hatte den Bullen gar nicht bemerkt. Beinahe hätte Priest zu ihr gesagt: Nicht zum Wagen hinsehen!, doch gerade noch rechtzeitig wurde ihm klar, daß sie dann erst recht hingeschaut hätte. Statt dessen sagte er, was ihm als erstes durch den Kopf ging. »Guck dir mal meine Hand an.«
Er streckte den Arm aus, drehte die Handfläche nach oben.
Melanie starrte darauf; dann blickte sie ihm fragend ins Gesicht. »Was gibt‘s da Besonderes zu sehen?« »Sieh genau hin, während ich‘s dir erkläre.«
Melanie tat wie geheißen.
»Wir gehen jetzt einfach am Pickup vorbei. Da steht ‚n Bulle und notiert sich die Nummer. Der Typ hat uns bemerkt, ich kann‘s aus den Augenwinkeln sehen.«
Melanie nahm den Blick von Priests Hand, sah ihm ins Gesicht – und verpaßte ihm urplötzlich eine schallende Ohrfeige.
Vor Schmerz und Verblüffung stieß Priest scharf den Atem aus.
»Und jetzt verpiß dich, und geh zu deiner dämlichen Blondine zurück!« schrie Melanie ihn an.
»Was?« rief er wütend.
Mit schnellen Schritten eilte Melanie davon.
Verdutzt beobachtete Priest, wie sie am Lieferwagen vorüberging.
Der Cop bedachte Priest mit einem schwachen Grinsen.
Priest rannte Melanie hinterher. »He!« rief er. »Jetzt warte doch mal!«
Der Cop wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Nummernschild zu.
Priest holte Melanie ein, und sie bogen um eine Hausecke.
»Das war klasse«, sagte er. »Aber mußtest du mir so fest in die Fresse hauen?«
Ein leistungsstarker tragbarer Scheinwerfer beleuchtete Michael, und an der Brusttasche seines dunkelgrünen Polohemds war ein winziges Mikrofon festgeklemmt. Eine kleine Fernsehkamera, auf ein Dreibein montiert, war auf ihn gerichtet. Hinter Michael waren die jungen Seismologen seines Teams vor den Monitoren ihrer Computer zu sehen, und vor ihm saß Alex Day, ein Fernsehreporter in den Zwanzigern mit modischem kurzem Haarschnitt. Er trug eine Army-Tarnjacke, was Judy für allzu effekthascherisch hielt.
Neben ihr stand Dusty, hielt vertrauensvoll ihre Hand und schaute zu, wie sein Daddy interviewt wurde. Michael sagte soeben: »Ja, wir können die Bereiche lokalisieren, an denen Erdbeben am ehesten ausgelöst werden könnten – aber leider können wir nicht sagen, welche Gegend die Terroristen gewählt haben, bis sie den seismischen Vibrator in Betrieb setzen.«
»Und welchen Rat geben Sie den Bürgern?« fragte Alex Day. »Wie können sie sich schützen, falls es ein Erdbeben gibt?«
»Das Motto lautet ›Ducken, Decken und Warten‹. Das ist der beste Ratschlag«, erwiderte Michael.
»Zum Beispiel, sich unter einen Tisch oder einen Schreibtisch zu ducken, das Gesicht zum Schutz vor umherfliegenden Glassplittern zu bedecken und in dieser Haltung zu bleiben, bis die Erschütterungen aufhören.«
Judy flüsterte Dusty zu: »Okay, geh jetzt zu Daddy.«
Dusty erschien im Bild. Michael hob den Jungen auf ein Knie. Wie aufs Stichwort fragte Alex Day: »Gibt es besondere Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen?«
»Nun ja, man sollte die eben geschilderten Notfallmaßnahmen, das ›Ducken, Decken und Warten‹, am besten sofort mit ihnen üben, damit die Kinder von allein wissen, wie sie sich verhalten müssen, wenn sie einen Erdstoß spüren. Und man sollte dafür sorgen, daß sie festes Schuhwerk tragen, keine Riemchenschuhe oder Sandalen, denn nach einem Beben ist der Boden mit Glassplittern übersät. Außerdem sollte man darauf achten, daß die Kinder immer in der Nähe bleiben, damit man sie nicht suchen muß, wenn alles vorbei ist.«
»Gibt es weitere Verhaltensregeln?«
»Ja. Nicht aus dem Haus rennen. Bei Erdbeben werden die meisten Verletzungen durch herunterfallende Ziegelsteine und andere Trümmerstücke von zerstörten Gebäuden verursacht.«
»Vielen Dank, daß Sie heute bei uns waren, Professor Quercus.«
Alex Day lächelte Michael und Dusty für einen langen, erstarrten Augenblick an; dann sagte der Kameramann: »Prima.«
Alle entspannten sich. Das Fernsehteam beeilte sich, seine Ausrüstung zu verstauen.
»Wann darf ich im Hubschrauber zu Grandma fliegen?« fragte Dusty.
»Jetzt sofort«, erwiderte Michael.
»Wann wird das Gespräch gesendet, Alex?« erkundigte sich Judy.»Wir brauchen es kaum zu schneiden, deshalb kann es gleich rausgehen. In der nächsten halben Stunde, würde ich sagen.« Judy schaute auf die Uhr. Es war viertel nach fünf.
Priest und Melanie gingen eine halbe Stunde zu Fuß, ohne ein Taxi zu sehen. Schließlich rief Melanie über ihr Handy ein Taxiunternehmen an. Sie und Priest warteten, doch es kam kein Taxi.
Priest war nahe daran, durchzudrehen. Da hatte er alles unternommen, was in seiner Macht stand – und nun war sein großer Plan in Gefahr, bloß weil er kein gottverdammtes Taxi auftreiben konnte!
Schließlich aber kam ein staubiger Chevrolet zu Pier 39 gefahren. Der Fahrer hatte einen unleserlichen mitteleuropäischen Namen, und er schien von einem Joint angeturnt zu sein. Er verstand kein Englisch, bis auf ›links‹ und ›rechts‹, und er war vermutlich der einzige Mensch in San Francisco, der noch nicht von dem drohenden Erdbeben gehört hatte.
Zwanzig nach sechs waren Priest und Melanie wieder am Lagerhaus.
In der Kommandozentrale des Krisenstabes ließ Judy sich in ihren Bürosessel fallen und starrte das Telefon an.
Es war fünf vor halb sieben. In fünfundzwanzig Minuten würde Granger den seismischen Vibrator in Betrieb setzen. Falls er so gut funktionierte wie bei den letzten beiden Malen, gab es ein weiteres Erdbeben, und diesmal würde es das verheerendste sein. Vorausgesetzt, Melanie hatte die Wahrheit gesagt, und der Vibrator befand sich irgendwo auf der Halbinsel von San Francisco, würde das Beben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch die Stadt treffen.
Etwa zwei Millionen Menschen waren seit Freitagabend – als Granger in der John-Truth-Show angekündigt hatte, das nächste Beben würde San Francisco heimsuchen – aus dem Gebiet der Metropole geflüchtet. Blieben aber immer noch mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder, die nicht in der Lage oder nicht dazu bereit waren, ihre Häuser zu verlassen: die Armen, die Alten und die Kranken; dazu die Polizisten, Feuerwehrleute, Krankenschwestern und andere städtische Bedienstete, die in Bereitschaft standen, mit den Rettungsarbeiten zu beginnen. Zu den Polizisten zählte auch Bo.
Auf dem Fernsehschirm sprach Alex Day aus einem behelfsmäßig eingerichteten Studio in der Notfallzentrale des Bürgermeisteramtes an der Turk Street, ein paar Querstraßen entfernt, mit dem Bürgermeister, der einen Schutzhelm und eine leuchtend rote Schutzweste trug und den Einwohnern riet, sich zu ›ducken, decken und warten‹.
Das Interview mit Michael wurde alle paar Minuten auf sämtlichen Kanälen gezeigt; die Verantwortlichen in den Sendern hatte man über den wahren Zweck informiert.
Doch es sah ganz so aus, als würde Melanie sich diesmal nicht die Nachrichten anschauen.
Um sechzehn Uhr hatte man Priests Lieferwagen in der Nähe von Fisherman‘s Wharf entdeckt. Das Fahrzeug stand immer noch unter Beobachtung, doch Priest war nicht dorthin zurückgekehrt. Im
Augenblick wurden jedes Parkhaus, jeder Parkplatz in der Gegend nach einem seismischen Vibrator abgesucht.
Im Ballsaal des Offiziersclubs wimmelte es von Menschen. Mindestens vierzig Beamte in Zivil drängten sich um die Leitstelle. Michael und seine Helfer scharten sich um ihre Computer und warteten auf den unpassend fröhlichen musikalischen Warnton, der das erste Zeichen für die seismischen Erschütterungen war, die sie alle fürchteten. Judys Team saß immer noch an den Telefonen und nahm Meldungen von Anrufern auf, die Personen gesehen haben wollten, auf welche die Beschreibung von Melanie und Granger paßte, doch es lag ein zunehmend verzweifelter Beiklang in den Stimmen der FBI-Agenten.
Dusty beim Fernsehinterview mit Michael zu zeigen war ihre letzte große Hoffnung gewesen, und sie schien sich zu zerschlagen.Die meisten Agenten, die in der Kommandozentrale des Krisenstabes arbeiteten, wohnten in der Gegend der Bucht. Die Abteilung für Verwaltung und technische Versorgung hatte die Evakuierung ihrer Familien organisiert. Das Gebäude, in dem die Agenten arbeiteten, wurde als relativ sicher betrachtet; die Wände waren vom Militär erdbebensicher verstärkt worden. Doch die FBI- Leute konnten nicht fliehen. Wie Soldaten, Feuerwehrleute und Polizisten mußten sie sich an den Ort der Gefahr begeben. Draußen, auf dem Paradeplatz, stand eine Hubschrauberflotte mit wirbelnden Rotorblättern bereit, Judy und ihre Kollegen in die Erdbebenzone zu fliegen.
Priest ging ins Bad. Als er sich die Hände wusch, hörte er Melanie schreien.
Mit nassen Händen stürmte er ins Büro. Melanie starrte auf den Fernseher. »Was ist los?« fragte er.
Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen, und ihr Gesicht war weiß. »Dusty!« sagte sie und wies auf den Bildschirm.
Priest sah, wie Michael Quercus interviewt wurde, seinen Sohn auf den Knien. Einen Augenblick später wechselte das Bild, und eine Nachrichtensprecherin sagte: »Das war Alex Day im Gespräch mit einem der weltweit führenden Seismologen, Professor Michael Quercus. Das Interview wurde in der Einsatzzentrale des FBI-Krisenstabes geführt.«
»Dusty ist in San Francisco!« rief Melanie hysterisch.
»Nein, ist er nicht«, sagte Priest. »Vielleicht war er dort, als das Interview aufgenommen wurde. Inzwischen ist er meilenweit weg.«
»Das weißt du doch gar nicht!«
»Natürlich weiß ich‘s. Und du auch. Michael wird schon auf den Jungen aufpassen.«
»Ich wünschte, ich könnte sicher sein.« Ihre Stimme war zittrig.
»Mach uns ‚ne Tasse Kaffee«, sagte Priest, nur damit Melanie etwas zu tun hatte.
»Ist gut.« Sie nahm den Topf von der Heizplatte und ging in den Waschraum, um Wasser zu holen.
Judy blickte auf die Uhr. Es war halb sieben.
Ihr Telefon klingelte.
Es wurde still im Saal.
Sie riß den Hörer von der Gabel, ließ ihn fallen, fluchte, hob ihn auf und drückte ihn sich ans Ohr. »Ja?« Die Telefonzentrale meldete sich: »Melanie Quercus möchte ihren Mann sprechen.«
Gott sei Dank! Judy wies auf Raja. »Den Anruf zurückverfolgen.«
Raja sprach bereits in den Hörer.
»Stellen Sie zu mir durch«, wies Judy den Telefonisten an.
Sämtliche hohen Beamten aus der Leitstelle versammelten sich um Judys Stuhl. Schweigend standen sie da und versuchten, mitzuhören.
Das könnte der wichtigste Anruf meines Lebens sein.
In der Leitung ertönte ein Klicken. Judy versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. »Hier Agentin Maddox«, sagte sie.
»Wo ist Michael?«
Melanie klang dermaßen verängstigt und verloren, daß Judy einen Anflug von Mitleid verspürte. Jetzt schien sie bloß noch eine Mutter zu sein, die eine Dummheit begangen und Angst um ihr Kind hatte.
Red dir nichts ein, Judy. Diese Frau ist ein Killer.
Judy schob alles Mitgefühl von sich. »Wo sind Sie, Melanie?«
»Bitte«, flüsterte Melanie. »Sagen Sie mir nur, wohin er Dusty gebracht hat.«
»Machen wir einen Handel«, erwiderte Judy. »Ich werde dafür sorgen, daß es Dusty gutgeht – wenn Sie mir sagen, wo der seismische Vibrator steht.«
»Könnte ich mit meinem Mann sprechen?«
»Sind Sie bei Ricky Granger? Ich meine, bei Priest?«»Ja.«
»Und Sie haben den seismischen Vibrator, wo immer Sie jetzt sein mögen?«
»Ja.«
Dann haben wir euch fast am Wickel.
»Melanie … wollen Sie wirklich so viele Menschen töten?«
»Nein, aber wir müssen …«
»Sie können sich nicht um Dusty kümmern, wenn Sie im Gefängnis sind. Dann werden Sie niemals erleben, wie er aufwächst.« Judy hörte ein Schluchzen am anderen Ende der Leitung.
»Sie werden ihn nur hin und wieder durch eine Trennwand aus Panzerglas sehen. Und wenn Sie Ihre Strafe abgesessen haben, wird Dusty ein erwachsener Mann sein, der Sie gar nicht mehr kennt.«
Melanie weinte.
»Sagen Sie mir, wo Sie sind, Melanie.«
Im großen Ballsaal war es totenstill. Niemand rührte sich.
Melanie flüsterte irgend etwas, das Judy nicht verstehen konnte.
»Reden Sie lauter!«
Am Ende der Leitung rief im Hintergrund ein Mann: »Wen rufst du an, du Saustück?«
»Schnell!« drängte Judy. »Schnell! Sagen Sie mir, wo Sie sind!«
»Gib mir das verdammte Handy!« brüllte der Mann.
Melanie sagte: »Perpetua …« Dann schrie sie.
Einen Augenblick später war die Leitung tot.
Raja sagte: »Sie ist irgendwo in der Gegend der Bay Shore, südlich der Stadt.«
»Das reicht nicht!« rief Judy.
»Genauer können sie‘s nicht bestimmen!«
»Mist!«
»Alle mal ruhig!« rief Stuart Cleever. »Wir spielen gleich den Mitschnitt noch mal ab. Aber erst eine Frage an Sie, Judy: Hat die Frau irgendwelche Hinweise gegeben?«
»Zum Schluß hat sie irgend etwas Seltsames gesagt. Es hörte
sich an wie ›Perpetual‹. Carl, stellen Sie fest, ob es eine Straße mit diesem Namen gibt.«
Raja meinte: »Wir sollten auch nach einer Firma dieses Namens suchen. Die beiden könnten in der Tiefgarage eines Bürogebäudes sein.«
»Gut. Überprüfen Sie‘s.«
Vor Wut und Enttäuschung hämmerte Cleever die Faust auf den Tisch. »Weshalb hat sie das Gespräch unterbrochen?«
»Ich glaube, Granger hat sie beim Anrufen erwischt und ihr das Telefon weggenommen.«
»Was wollen Sie jetzt tun?«
»Ich möchte den Helikopter benutzen«, sagte Judy. »Wir könnten die Küstenlinie entlangfliegen. Michael kann mitkommen und mir zeigen, wo die Verwerfung verläuft. Vielleicht entdecken wir irgendwo den seismischen Vibrator.«
»In Ordnung«, sagte Cleever.
Priest starrte Melanie wütend an, während diese bis zum schmutzigen Waschbecken zurückwich. Das Miststück hatte versucht, ihn zu verraten. Hätte Priest eine Waffe dabei gehabt, hätte er Melanie auf der Stelle erschossen. Doch der Revolver, den er dem Posten der Los Alamos weggenommen hatte, lag im Vibrator unter dem Fahrersitz.
Er knipste Melanies Handy aus und ließ es in die Brusttasche seines Hemdes gleiten. Dann versuchte er sich zur Ruhe zu zwingen, wie Star es ihn gelehrt hatte. Als junger Mann hatte er sich häufig zu Wutanfällen hinreißen lassen, da er wußte, daß er andere damit einschüchterte und verängstigte – und man konnte leichter mit den Menschen umgehen, wenn sie sich fürchteten. Star jedoch hatte ihn gelehrt, richtig zu atmen und sich zu entspannen und zu denken – was auf lange Sicht besser war, als sich von seinem Zorn hinreißen zu lassen.
Nun überdachte Priest den Schaden, den Melanie angerichtet hatte. Hatte das FBI das Gespräch zurückverfolgen können?Konnte es ermitteln, woher ein Anruf über Handy kam? Vermutlich ja – und wenn diese Vermutung zutrifft, wird das FBI in Kürze die Gegend durchstreifen und nach einem seismischen Vibrator Ausschau halten.
Priest war die Zeit davongelaufen. Das seismische Fenster öffnete sich um zwanzig vor sieben. Er schaute auf die Uhr: Es war halb sieben. Zum Teufel mit dieser Sieben-Uhr-Frist – er mußte das Erdbeben jetzt sofort auslösen.
Priest stürmte aus dem Waschraum. Der seismische Vibrator stand in der Mitte des leeren Lagerhauses, mit der Schnauze zu den hohen Flügeln des Eingangstores. Priest schwang sich in die Fahrerkabine und ließ den Motor an.
Es dauerte ein, zwei Minuten, bis sich im Vibrationsaggregat ein ausreichend hoher Druck aufgebaut hatte. Ungeduldig beobachtete Priest die Anzeigeinstrumente. Mach schon, mach schon! Dann, endlich, sprangen die Anzeigen auf Grün um.
Die Beifahrertür des Lasters ging auf, und Melanie stieg in die Fahrerkabine. »Tu‘s nicht!« rief sie. »Ich weiß nicht, wo Dusty ist!«
Priest streckte die Hand nach dem Hebel aus, mit dem die Stahlplatte des Vibrators zu Boden gefahren wurde.
Melanie stieß seine Hand zur Seite. »Bitte, tu‘s nicht!«
Priest schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Sie schrie, und Blut lief aus ihrer aufgeplatzten Lippe. »Bleib mir aus dem Weg, verflucht!« brüllte Priest. Er legte den Hebel um, und die Bodenplatte senkte sich.
Melanie streckte die Hand aus und drückte den Hebel wieder nach vorn in die Ausgangsstellung.
Priest sah rot. Wieder schlug er sie.
Melanie schrie auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen, machte aber keine Anstalten wegzulaufen. Erneut legte Priest den Hebel um.
»Bitte«, sagte Melanie, »tu‘s nicht.«
Was soll ich bloß machen mit diesem dämlichen Weibsstück?
Priest fiel die Waffe ein, die unter dem Fahrersitz lag. Er streckte die Hand aus, ergriff den Revolver und hob ihn auf. In der beengten Fahrerkabine war es eine zu große, viel zu klobige Waffe. Priest richtete den Lauf auf Melanie. »Steig aus!« befahl er.
Zu seiner Verblüffung streckte sie wieder den Arm über ihn hinweg, wobei sie ihren Körper gegen den Waffenlauf preßte, und schob den Hebel ein zweites Mal in die Ausgangsstellung zurück.
Priest drückte ab.
In der kleinen Fahrerkabine des Lasters war der Knall ohrenbetäubend.
Für einen Sekundenbruchteil durchzuckten der Schock und der Schmerz darüber, daß er Melanies wunderschönen Körper zerstört hatte, einen kleinen Teil seines Hirns, doch er kämpfte diese Empfindungen nieder.
Melanie wurde rücklings durch die Fahrerkabine geschleudert. Da die Tür immer noch offenstand, stürzte sie hinaus und prallte mit einem widerlichen Geräusch auf den Betonboden des Lagerhauses.
Priest schaute gar nicht erst nach, ob sie tot war.
Zum drittenmal zog er den Hebel.
Langsam senkte sich die Stahlplatte.
Als sie auf den Boden traf, betätigte Priest den Vibrationsmechanismus.
Der Helikopter war viersitzig. Judy saß neben dem Piloten; hinter ihr hatte Michael Platz genommen. Während sie die Küste entlang nach Süden flogen, vernahm Judy im Kopfhörer die Stimme einer der studentischen Assistentinnen Michaels, die aus der Leitstelle anrief. »Michael! Hier Paula! Es hat angefangen … ein seismischer Vibrator!«
Vor Angst durchfuhr es Judy eiskalt. Ich dachte, es wäre noch Zeit! Sie schaute auf die Uhr: Es war viertel vor sieben. Grangers Frist lief erst in fünfzehn Minuten ab. Bestimmt hatte Melanies Anruf ihn dazu getrieben, früher zu handeln.
»Sind Erdstöße auf dem Seismogramm?« fragte Michael.»Nein … bis jetzt nur die Schwingungen des seismischen Vibrators.«
Noch kein Erdbeben. Gott sei Dank.
Judy rief ins Mikrofon: »Sagen Sie uns, wo der Vibrator steht, schnell!«
»Kleinen Moment, die Koordinaten müssen jeden Augenblick erscheinen.«
Judy schnappte sich eine Landkarte.
Beeilung, Beeilung!
Ein paar Sekunden später las Paula die Zahlen von ihrem Monitor ab. Judy entdeckte die Stelle auf der Karte. »Zwei Meilen genau südlich«, rief sie dem Piloten zu. »Dann etwa fünfhundert Meter ins Binnenland.«
Der Magen drehte sich ihr um, als der Helikopter in steilen Sinkflug ging und beschleunigte.
Sie flogen über die alte Hafengegend: verfallende Fabrikgebäude, Schrott und Autowracks. An einem normalen Sonntag wären hier zumindest einige Fahrzeuge und Passanten unterwegs gewesen; doch jetzt war das Viertel still und verlassen. Judy ließ den Blick über den Horizont schweifen und suchte nach einem Laster, bei dem es sich um den seismischen Vibrator handeln könnte.
Im Süden sah sie zwei Streifenwagen der Polizei, die sich mit hoher Geschwindigkeit ebenfalls zu der Stelle bewegten, die Paula genannt hatte. Aus westlicher Richtung näherte sich der Mannschaftswagen mit dem FBI-Sondereinsatzkommando. Im Presidio stiegen in diesem Augenblick die anderen Helikopter auf, bemannt mit bewaffneten FBI-Agenten. Und bald würde die Hälfte aller Polizeifahrzeuge Nordkaliforniens in Richtung der Stelle unterwegs sein, deren Koordinaten Paula angegeben hatte. »Paula!« sagte Michael ins Mikrofon. »Was tut sich auf Ihren Monitoren?«
»Nichts … der Vibrator ist in Betrieb, erzielt aber keine Wirkung.«
»Gott sei Dank!« rief Judy aus.
»Wenn der Kerl sich verhält wie gehabt«, sagte Michael, »wird er den Vibrator eine Viertelmeile weiter fahren und es noch mal versuchen.«
Der Pilot meldete: »Hier ist es. Wir sind jetzt über dem angegebenen Koordinatenpunkt.« Der Hubschrauber ging in den Kreisflug.
Judy und Michael starrten in die Tiefe, suchten verzweifelt nach dem seismischen Vibrator.
Doch unter ihnen rührte sich nichts.
Priest fluchte.
Das Vibrationsaggregat arbeitete zwar, doch von einem Erdbeben war nichts zu spüren.
Aber das gleiche war beide Male zuvor schon geschehen. Und Melanie hatte gesagt, sie würde nicht richtig verstehen, weshalb es an manchen Stellen funktionierte und an anderen nicht. Vielleicht hatte es mit den verschiedenen Arten der oberen Erdschichten zu tun. Beide Male zuvor hatte der seismische Vibrator beim dritten Versuch ein Beben ausgelöst. Heute jedoch mußte Priest gleich beim erstenmal Glück haben.
Er hatte es nicht.
Innerlich kochend vor Wut und Enttäuschung, stellte er den Mechanismus ab und fuhr die Bodenplatte hoch.
Er mußte den Vibrator an eine andere Stelle bringen.
Priest sprang aus der Fahrerkabine. Er stieg über Melanie hinweg, die in verkrümmter Haltung mit dem Rücken an der Wand lehnte und deren Blut den Betonboden rot färbte. Dann rannte er zum Ausgang, einem altmodischen Tor, dessen beide Flügel nach innen geklappt werden mußten, wenn große Fahrzeugen hindurchfahren sollten. In einem der Torflügel befand sich eine normale, mannshohe Tür. Priest stieß sie auf.
Über dem Eingangstor eines kleinen Lagerhauses entdeckte Judy ein Schild mit der Aufschrift Perpetua Diaries. Sie erinnerte sich, daß sie bei ihrem Telefongespräch mit Melanie das Wort ›Perpetual‹ verstanden hatte.
»Da ist es!« rief sie. »Gehen Sie runter!«
Der Pilot ging rasch in den Sinkflug und wich dabei einer Starkstromleitung aus, die an der einen Straßenseite von Mast zu Mast verlief; dann landete er in der Mitte der verlassenen Straße.
Kaum spürte Judy die leichte Erschütterung beim Aufsetzen, riß sie auch schon die Tür des Helikopters auf.
Priest schaute aus dem Lagerhaus.
Ein Hubschrauber war auf der Straße gelandet. Priest sah, wie jemand aus der Maschine sprang: eine junge Frau mit einem Wundverband über Nase und Wange. Judy Maddox.
Priest brüllte einen Fluch, der vom Dröhnen des Hubschraubers übertönt wurde.
Es war zu spät, um die Flügeltüren zu öffnen.
Priest stürmte zurück zum seismischen Vibrator, schwang sich in die Fahrerkabine und legte so brutal den Rückwärtsgang ein, daß das Getriebe krachte. Er setzte den Laster so weit zurück, wie er konnte, und bremste erst, als die Heckstoßstange gegen die Wand des Lagerhauses prallte. Dann legte er den ersten Gang ein, gab Gas, daß der Motor aufheulte, und ließ mit einem Ruck die Kupplung kommen. Der Laster schoß nach vorn.
Priest trat das Gaspedal voll durch. Mit dröhnendem Motor gewann der Achtzehntonner an Geschwindigkeit, beschleunigte über die gesamte Länge des Lagerhauses und krachte gegen die alten Holzflügel des Eingangstores.
Judy Maddox stand genau vor dem Tor, die Waffe in der Hand. Erschrecken und Angst huschten über ihr Gesicht, als der Laster das Tor durchbrach. Priest grinste irre, als er weiter beschleunigte und genau auf Judy zuhielt. Sie warf sich zur Seite, und der Laster donnerte nur eine Handbreit an ihr vorüber.
Der Helikopter stand noch immer mitten auf der Straße. Ein Mann stieg aus. Priest erkannte Michael Quercus.
Er lenkte den Laster auf den Helikopter zu, legte den zweiten Gang ein und beschleunigte weiter.
Judy rollte sich über die Schulter ab, zielte auf die Fahrertür und feuerte zweimal. Sie hörte den metallenen Einschlag der Kugeln, konnte den Laster aber nicht zum Stehen bringen.
Der Motor des Helikopters brüllte auf, und die Maschine hob ab.
Michael rannte zur Straßenseite.
Judy vermutete, daß Granger versuchen wollte, die Landekufen des Hubschraubers mit dem Aufbau des Vibrators zu rammen, wie er es in Felicitas getan hatte; diesmal aber war der Pilot zu schnell für ihn. Die Maschine schoß gerade noch rechtzeitig in die Höhe, als der Laster unter ihr entlangdonnerte.
Doch in seiner Panik hatte der Pilot nicht mehr an die Starkstromleitung gedacht.
Zwischen den hohen Masten spannten sich fünf oder sechs Kabel. Die Rotorblätter verfingen sich darin, wobei einige Kabel durchtrennt wurden. Der Motor des Hubschraubers begann zu stottern. Einer der Masten bog sich unter der Zugkraft zur Seite und stürzte um. Die Rotorblätter kamen frei und drehten wieder ungehindert, doch der Helikopter hatte an Aufstiegsschwung und Höhe verloren und schlug mit einem ohrenbetäubenden Krachen auf dem Boden auf.
Priest blieb nur noch eine Hoffnung.
Wenn es ihm gelang, eine Viertelmeile weit zu fahren, die Bodenplatte abzusenken und den Vibrationsmechanismus in Betrieb zu setzen, konnte er es vielleicht doch noch schaffen, ein Erdbeben zu erzeugen, ehe das FBI ihn erwischte. Und im Chaos des Bebens gelang ihm möglicherweise die Flucht, wie schon zuvor.
Er schlug das Lenkrad ein und fuhr die Straße hinunter.Judy feuerte noch einmal, als der Vibrator den zerstörten Helikopter umfuhr. Sie hoffte, Granger zu treffen oder irgendeinen wichtigen Teil des Vibrationsaggregats, doch sie hatte kein Glück. Der Laster rumpelte die mit Schlaglöchern übersäte Straße hinunter.
Judy schaute zum Wrack des Hubschraubers. Der Pilot rührte sich nicht. Fluchend blickte Judy dem seismischen Vibrator hinterher, der träge beschleunigte.
Wenn ich doch nur ein Gewehr hätte!
Michael kam zu Judy gerannt. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja«, erwiderte sie und traf eine Entscheidung. »Schau nach, ob du dem Piloten helfen kannst – ich werde Granger verfolgen.«
Er zögerte; dann sagte er: »Okay.«
Judy schob ihre Waffe ins Holster und rannte dem Laster hinterher. Das schwerfällige Fahrzeug gewann nur langsam an Geschwindigkeit. Zuerst verringerte Judy rasch den Abstand. Dann aber legte Granger den nächsten Gang ein, und der Achtzehntonner beschleunigte rascher. Judy rannte, so schnell sie konnte. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft, ihre Lungen brannten. Am Heck des Lasters war ein großer Reservereifen befestigt. Noch immer verringerte Judy den Abstand, jedoch nicht mehr so rapide wie zu Anfang. In dem Moment, als sie die Hoffnung aufgab, den Vibrator noch einholen zu können, schaltete Granger einen weiteren Gang hoch, so daß das Fahrzeug für einen Augenblick an Geschwindigkeit verlor. Entschlossen und mit letzter Kraft stürmte Judy los, sprang mit vorgestreckten Armen auf die Stoßstange zu und bekam sie zu fassen.
Sie schwang einen Fuß hinauf, griff nach oben und packte den Reservereifen. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte sie, sie würde abrutschen und stürzen: Sie schaute hinunter und sah, wie die Straße unter ihr wegraste. Doch sie konnte sich festklammern. Sie kletterte auf die kleine ebene Fläche neben den Druckbehältern, Röhren und Ventilen der Vibrationsmaschinerie. Sie taumelte, hielt mühsam das Gleichgewicht, stürzte um ein Haar, fand dann aber sicheren Stand.
Judy wußte nicht, ob Granger sie gesehen hatte.
Solange der Laster fuhr, konnte er den Vibrator natürlich nicht in Betrieb setzen; deshalb blieb Judy, wo sie war, keuchend und mit wild klopfendem Herzen, und wartete darauf, daß Granger anhielt.
Doch er hatte sie gesehen.
Judy hörte das Klirren von Glas und sah, wie der Lauf einer Waffe durch das Loch in der Heckscheibe der Fahrerkabine geschoben wurde. Instinktiv duckte sie sich und hörte im nächsten Moment, wie eine Kugel dröhnend einen Druckbehälter neben ihr traf und als Querschläger davonsirrte. Judy beugte sich nach links, so daß sie sich direkt hinter Granger befand, und kauerte sich tief nieder. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hörte einen weiteren Schuß und zuckte zusammen, doch auch die zweite Kugel verfehlte sie. Dann schien Granger es aufzugeben.
Doch er dachte gar nicht daran.
Er trat voll auf die Bremse, so daß Judy nach vorn geschleudert wurde und mit dem Kopf schmerzhaft gegen eine Rohrleitung prallte. Dann schlug Granger das Lenkrad scharf nach rechts ein. Judy rutschte zur Seite und glaubte für einen schrecklichen Augenblick, vom Laster auf die Straße und in den Tod geschleudert zu werden. Doch es gelang ihr, sich festzuhalten. Dann aber sah sie, daß Granger in einem selbstmörderischen Manöver geradewegs auf die gemauerte Außenwand eines verlassenen Fabrikgebäudes zuhielt. Judy klammerte sich an einen Druckbehälter.
Im letzten Moment machte Granger eine Vollbremsung und kurbelte wild am Lenkrad, um den Truck herumzureißen, hatte jedoch einen Sekundenbruchteil zu spät reagiert. Zwar konnte er einen Frontalaufprall vermeiden, doch der Kotflügel auf der Fahrerseite fraß sich in die Gebäudefassade. Das Knirschen von Mauerwerk, das Kreischen sich verbiegenden Metalls und das Klirren von splitterndem Glas erfüllten die Luft. Ein lähmender Schmerz durchfuhr Judys Brustkorb, als sie gegen den Druckbehälter gepreßt wurde, an dem sie sich festgeklammert hatte. Dann wurde sie durch die Luft geschleudert.Einen schwindelerregenden Augenblick lang war Judy völlig orientierangslos. Dann prallte sie mit der linken Seite auf den Boden. Der harte Aufschlag raubte ihr den Atem, so daß sie ihren Schmerz nicht einmal hinausschreien konnte. Ihr Kopf schlug auf den Straßenbelag, ihr linker Arm wurde taub, und Panik überfiel sie wie ein wildes Tier.
Wenige Sekunden später wurde ihr Kopf wieder klarer. Sie spürte den Schmerz, konnte sich aber nicht bewegen. Ihre kugelsichere Weste hatte den Aufprall ein wenig gemildert. Ihre schwarze Kordhose war aufgerissen, ein Knie war aufgeschürft, und ihre Nase blutete: Bei dem Sturz war die Wunde, die Granger ihr tags zuvor zugefügt hatte, wieder aufgeplatzt.
Judy war hinter dem Laster zu Boden gefallen und lag dicht vor den gewaltigen Doppelreifen. Falls Granger auch nur einen Meter zurücksetzte, wäre das der sichere Tod für sie. Sie rollte sich zur Seite, blieb hinter dem Vibrator, vergrößerte aber den Abstand zu den riesigen Reifen. Die Bewegungen jagten feurige Lohen des Schmerzes durch ihren Brustkorb, und sie fluchte.
Der Laster rührte sich nicht vom Fleck. Granger versuchte nicht, Judy zu überfahren. Vielleicht hatte er nicht gesehen, wo sie zu Boden gefallen war.
Judy schaute auf, blickte die Straße hinunter. Sie sah, wie Michael – etwa vierhundert Meter entfernt – sich bemühte, den Piloten aus dem abgestürzten Helikopter zu befreien. In der anderen Richtung war keine Spur vom Mannschaftswagen des Sondereinsatzkommandos oder den Streifenwagen zu entdecken, die Judy aus der Luft beobachtet hatte; auch keiner der FBI-Hubschrauber war am Himmel. Vielleicht dauerte es nur noch Sekunden bis zu ihrem Eintreffen – doch Judy konnte keine einzige davon entbehren. Sie stemmte sich auf die Knie und zog ihre Waffe. Sie rechnete jederzeit damit, daß Granger aus der Fahrerkabine sprang und auf sie feuerte. Doch nichts rührte sich.
Mühsam und unter Schmerzen rappelte Judy sich auf.
Wenn sie sich der Fahrertür des Lasters näherte, würde Granger sie auf jeden Fall im Außenspiegel sehen. Judy ging zur anderen Seite des Vibrators und riskierte einen raschen Blick um das Heck herum nach vorn. Auch auf der Beifahrerseite war ein großer Außenspiegel angebracht.
Judy ließ sich auf die Knie nieder, legte sich flach auf den Boden und kroch unter den Laster.
Sie schlängelte sich nach vorn, bis sie sich beinahe unter der Fahrerkabine befand.
Plötzlich hörte sie über sich ein neues, verändertes Geräusch. Was ist das? fragte sie sich verwirrt. Als sie nach oben schaute, sah sie die große Stahlplatte genau über sich. Und die Platte senkte sich auf sie herunter.
In panischem Entsetzen wälzte Judy sich zur Seite, doch ihr rechter Fuß blieb an einem der Hinterräder hängen. Ein paar schreckliche Sekunden lang versuchte sie verzweifelt, sich zu befreien, während die Stahlplatte sich unerbittlich auf sie heruntersenkte. Die Platte würde ihr Bein zu Brei zerquetschen. Buchstäblich im letzten Moment riß Judy ihren Fuß aus dem Schuh und rollte sich zur Seite weg.
Jetzt lag sie neben dem Laster, im Sichtbereich des Außenspiegels. Granger würde sie jeden Augenblick entdecken. Wenn er sich jetzt aus der Beifahrertür beugte, eine Waffe in der Hand, konnte er sie mit Leichtigkeit erschießen.
Plötzlich dröhnte es in Judys Ohren wie bei einem Bombeneinschlag, und der Boden unter ihr erzitterte heftig. Granger hatte den Vibrator in Betrieb gesetzt.
Du mußt ihn aufhalten! schrie es in Judy. Für einen Augenblick dachte sie an Bos Haus und sah vor ihrem geistigen Auge, wie es einstürzte und in sich zusammenfiel; so wie sämtliche Häuser an der Straße dem Erdboden gleichgemacht wurden.
Judy preßte die linke Hand an die Seite ihres Brustkorbs, um den Schmerz zu lindern, und zwang sich auf die Beine.
Zwei Schritte, und sie war an der Beifahrertür, die sie mit derfreien rechten Hand öffnen mußte; deshalb nahm sie die Waffe in die Linke – sie konnte mit beiden Händen treffsicher schießen -und richtete den Lauf gen Himmel.
Jetzt.
Sie sprang aufs Trittbrett, packte den Handgriff und riß die Tür auf.
Und sah sich Auge in Auge Richard Granger gegenüber.
Er sah ebenso verängstigt aus, wie Judy sich fühlte.
Mit der linken Hand richtete sie die Waffe auf ihn. »Stell das Ding ab!« rief sie. »Stall‘s ab!«
»Okay«, sagte Granger. Er grinste und griff unter den Sitz.
Sein Grinsen alarmierte Judy. Sie wußte, daß Granger den Vibrator nicht abstellen würde. Judy wappnete sich, den Mann erschießen zu müssen.
Sie hatte noch nie einen Menschen erschossen.
Grangers Hand zuckte mit einer Waffe in die Höhe, die wie ein Revolver in einem Western aussah.
Der lange Lauf schwenkte zu Judy herum. Sie richtete ihre Waffe auf Grangers Kopf und drückte ab.
Die Kugel traf ihn neben der Nase ins Gesicht.
Granger feuerte einen Sekundenbruchteil später. Der Mündungsblitz und die Schußdetonation waren fürchterlich. Judy spürte einen brennenden Schmerz an der rechten Schläfe.
Jetzt zahlte sich ihr jahrelanges Training aus. Man hatte Judy gelehrt, stets zweimal zu feuern, und ihre Muskeln reagierten ganz von selbst. Ohne daß ihr Hirn den Befehl erteilte, drückte sie ein zweites Mal ab. Diesmal traf sie Granger in die Schulter. Blut spritzte durch die Fahrerkabine. Grangers Körper wurde zurückgeschleudert. Er prallte mit dem Kopf gegen die Fahrertür, und die Waffe rutschte ihm aus den schlaffen Fingern.
Großer Gott! Ich hatte keine Ahnung, daß es so gräßlich ist, wenn man jemanden tötet.
Judy spürte, wie ihr eigenes Blut über ihre rechte Wange rann.
Sie kämpfte gegen eine Woge von Schwäche und Übelkeit an. Noch immer hielt sie die Waffe auf Granger gerichtet.
Der seismische Vibrator war noch immer in Betrieb.
Judy starrte auf das Gewirr aus Hebeln und Knöpfen und Anzeigen. Soeben hatte sie den einzigen Menschen weit und breit erschossen, der wußte, wie man den Vibrator abstellte. Panik stieg in ihr auf, und Judy wehrte sich verzweifelt dagegen. Irgendwo muß es einen Schlüssel geben!
Es gab einen.
Sie beugte sich über Ricky Grangers regungslosen Körper und drehte den Schlüssel.
Augenblicklich trat Stille ein.
Judy ließ den Blick über die Straße schweifen. Vor dem Lagerhaus der Perpetua Diaries war der Hubschrauber in Flammen aufgegangen.
Michael!
Judy stieß die Tür des Lasters auf und kämpfte gegen eine drohende Bewußtlosigkeit an. Sie wußte, daß sie noch irgend etwas hätte tun müssen, etwas Wichtiges, bevor sie Michael zu Hilfe kam, doch ihr wollte einfach nicht einfallen, was es war. Sie schüttelte den Gedanken ab und stieg aus dem Laster.
In der Ferne erklang eine Polizeisirene, die rasch lauter wurde. Kurz darauf sah Judy einen Streifenwagen heranjagen. Sie winkte dem Fahrer, anzuhalten. »FBI«, sagte sie keuchend. »Bringen Sie mich zu dem Helikopter.« Sie öffnete die Wagentür und ließ sich in den Sitz fallen.
Der Polizeibeamte fuhr Judy die knapp vierhundert Meter bis zum Lagerhaus und hielt in sicherer Entfernung vor dem brennenden Hubschrauber. Judy stieg aus. In der Pilotenkanzel war niemand zu sehen. »Michael!« rief sie. »Wo bist du?«
»Hier drüben!« Er stand hinter den zertrümmerten Flügeltüren des Lagerhauses und beugte sich über den Piloten. Judy eilte zu ihm. »Der Mann braucht Hilfe«, sagte Michael. Er schaute Judy ins Gesicht.
»Großer Gott! Und du nicht minder!«»Es geht schon«, sagte sie. »Und Hilfe ist unterwegs.« Sie zog ihr Handy hervor und rief die Einsatzzentrale an. Raja meldete sich. »Was ist passiert, Judy?« fragte er.
»Das sollten Sie mir sagen, verflixt noch mal!«
»Der seismische Vibrator arbeitet nicht mehr.«
»Ich weiß. Ich hab‘ das Ding zum Stillstand gebracht. Hat es Erdstöße gegeben?«
»Nein. Es ist überhaupt nichts passiert.«
Vor Erleichterung wurden Judy die Knie weich. Sie hatte den Vibrator rechtzeitig abgestellt. Die Gefahr eines Erdbebens war gebannt.
Judy fühlte sich plötzlich so schwach, daß sie sich an die Wand des Lagerhauses lehnte. Sie hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben.
Sie fühlte sich nicht als Siegerin, verspürte kein Gefühl des Triumphs. Später vielleicht, wenn sie mit Raja und Carl und den anderen zusammen war, in Everton‘s Bar. Doch im Augenblick war sie nur zu Tode erschöpft.
Ein weiterer Streifenwagen fuhr heran, und ein Polizist stieg aus. »Lieutenant Forbes«, stellte er sich vor. »Großer Gott, was ist denn hier passiert? Wo ist der Täter?«
Judy wies die Straße hinunter auf den seismischen Vibrator. »Er ist im Fahrerhaus des Lasters da hinten«, sagte sie. »Tot.«
»Dann wollen wir‘s uns mal anschauen.« Der Lieutenant stieg wieder in den Streifenwagen und fuhr die Straße hinunter.
Michael war verschwunden. Judy ging ins Innere des Lagerhauses, um Ausschau nach ihm zu halten.
Sie sah ihn in einer Blutlache auf dem Betonboden sitzen. Doch er war unverletzt. Er hielt Melanie in den Armen. Ihr Gesicht war noch bleicher als üblich, und ihr eng sitzendes T-Shirt war von Blut durchtränkt, das aus einer Schußwunde in der Brust stammte.
Michaels Gesicht war vor Schmerz und Trauer verzerrt.
Judy ging zu ihm, kniete sich neben ihm nieder. Sie fühlte an Melanies Halsschlagader nach den Puls. Ihr Herz schlug nicht mehr.
»Tut mir leid, Michael«, sagte sie. »Es tut mir schrecklich leid.« Er schluckte. »Dusty … der arme kleine Kerl.« Judy legte ihm die Hand auf die Wange. »Es wird alles wieder gut«, sagte sie.
Augenblicke später tauchte Lieutenant Forbes wieder auf. »Entschuldigung, Ma‘am«, sagte er höflich. »Sagten Sie nicht vorhin, in dem Laster sei ein toter Mann?«
»Ja«, erwiderte Judy. »Ich habe ihn in der Fahrerkabine erschossen.«
»Tja«, sagte der Cop, »jetzt ist er nicht mehr drin.«
Kapitel 22
Star wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Zu Anfang war das Gefängnis eine Tortur. Der reglementierte Tagesablauf war die Hölle für einen Menschen, der sein bisheriges Leben in völliger Freiheit verbracht hatte. Dann verliebte sich eine hübsche Aufseherin namens Jane in Star; sie brachte ihr Make-up und Bücher und Marihuana, und für Star ging es allmählich bergauf.
Flower wurde in die Obhut von Pflegeeltern gegeben – ein Methodistenpfarrer und dessen Frau. Sie waren warmherzige Menschen, die nicht verstehen konnten, woher Flower kam. Flower vermißte ihre Eltern; ihre schulischen Leistungen waren jämmerlich, und sie bekam noch mehr Schwierigkeiten mit der Polizei. Dann, ein paar Jahre später, fand sie ihre Großmutter. Veronica Nightingale war erst dreizehn gewesen, als sie Priest zur Welt gebracht hatte; deshalb war sie erst Mitte sechzig, als sie und Flower sich kennenlernten. Veronica besaß in Los Angeles einen Laden, in dem Sexspielzeuge, Reizwäsche und Pornovideos verkauft wurden. Sie hatte ein Apartment in Beverly Hills und fuhr einen roten Sportwagen, und sie erzählte Flower Geschichten über ihren Daddy, als dieser noch ein kleiner Junge gewesen war. Flower türmte aus dem Haus des Pfarrers und zog zu ihrer Großmutter. Oaktree verschwand von der Bildfläche. Judy wußte, daß bei der Katastrophe in Felicitas eine vierte Person, ein Mann, im Barracuda gesessen hatte, und nach und nach hatte sie sich ein Bild davon machen können, welche Rolle dieser Mann bei der ganzen Sache gespielt hatte. Judy hatte sogar seine Fingerabdrücke – sämtliche Fingerabdrücke: Das FBI hatte sie in seiner Tischlerei in der Kommune genommen. Doch niemand wußte, wohin der Mann verschwunden war. Einige Jahre später jedoch wurden seine Fingerabdrücke in einem gestohlenen Wagen entdeckt, der bei einem bewaffneten Banküberfall in Seattle benutzt worden war. Die Polizei hatte Oaktree nicht in Verdacht, da er ein wasserdichtes Alibi vorweisen konnte, doch Judy wurde automatisch informiert, wie es den Vorschriften entsprach. Als sie die Akte gemeinsam mit dem Staatsanwalt – ihrem alten Freund Don Riley, der inzwischen eine Versicherungsvertreterin geheiratet hatte – noch einmal durchging, erkannten beide, daß das Beweismaterial für eine Anklage wegen Beteiligung an den Erpressungen und Terroranschlägen der Kinder von Eden zu dürftig war. Sie beschlossen, Oaktree in Ruhe zu lassen.
Milton Lestrange starb an Krebs. Brian Kincaid trat in den Ruhestand. Marvin Hayes kündigte seinen Dienst auf und wurde Sicherheitschef einer Supermarktkette.
Michael Quercus erlangte bescheidene Berühmtheit. Da er ein gutaussehender Mann war und die Seismologie allgemeinverständlich erklären konnte, wurde er immer dann von Fernsehsendern verpflichtet, wenn diese Erläuterungen in Sachen Erdbeben wünschten.
Judy wurde zum Supervisor befördert. Sie zog zu Michael und Dusty. Als Michaels Beraterfirma in Schwung kam und ihm ordentlich Geld einbrachte, kauften sie gemeinsam ein Haus und beschlossen, für Nachwuchs zu sorgen: Einen Monat später war Judy schwanger, und die beiden heirateten. Bo weinte bei der Hochzeit.
Judy fand heraus, wie Granger entkommen war.
Die Schußwunde in seinem Gesicht war gräßlich, aber keine schwere Verletzung. Die Kugel in der Schulter hatte eine Arterie gestreift; durch den plötzlichen Blutverlust und den Schlag gegen den Kopf hatte Granger das Bewußtsein verloren. Judy hätte seinen Puls fühlen sollen, bevor sie Michael zu Hilfe geeilt war, doch sie war von ihren Verwundungen geschwächt und durch den Blutverlust benommen gewesen und hatte es daher versäumt, die üblichen Schritte zu unternehmen.
Da Granger verkrümmt an der Fahrertür gelehnt hatte, warsein Blutdruck rasch wieder gestiegen. Wenige Sekunden nachdem Judy die Fahrerkabine verlassen hatte, erlangte er das Bewußtsein wieder. Er wankte um die Straßenecke auf die Third Street, wo er das Glück hatte, einen Wagen zu finden, der an einer roten Ampel wartete. Granger stieg ein, richtete die Waffe auf den Fahrer und zwang den Mann, ihn in die Stadt zu bringen. Unterwegs rief er über Melanies Handy Paul Beale an, den Weinabfüller, einer von Grangers
Verbrecherkumpanen aus alten Zeiten. Beale nannte ihm die Adresse eines Arztes, der sein Honorar kassieren und den Mund halten konnte.
Granger ließ den Fahrer an einer Straßenecke in einem heruntergekommenen Viertel halten. Der unter Schock stehende Mann fuhr nach Hause und rief beim örtlichen Polizeirevier an. Die Leitung war besetzt, und der gute Mann brachte es erst am darauffolgenden Tag fertig, jemanden zu erreichen und den Vorfall zu melden. Der Arzt, ein heroinsüchtiger Chirurg, dem man die Approbation entzogen hatte, flickte Granger zusammen. Granger blieb über Nacht in der Wohnung des Arztes; dann setzte er sich ab.
Judy fand nie heraus, wohin er verschwunden war.